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       # taz.de -- Kommentar Zivilgesellschaft in Russland: Wut auf den Straßen
       
       > In Russland scheint die Zivilgesellschaft stärker zu werden, während
       > Putins Apparat schwächelt. Aber hat die Bewegung eine Chance?
       
   IMG Bild: Pro-Golunow-Demo in St. Petersburg
       
       So viel Euphorie in Russland ist selten, wenn die UntertanInnen mal nicht
       im Auftrag des Staats jubeln müssen. Als „Sieg der Zivilgesellschaft“
       werten einige Beobachter dieser Tage den glimpflichen Ausgang der Causa
       Iwan Golunow. Allerdings taugt dieses Beispiel nur bedingt zu derart
       optimistischen Einschätzungen.
       
       Zugegeben: Dass die Anklage gegen den Moskauer Investigativjournalisten,
       der des Drogenbesitzes beschuldigt worden war, [1][schnell wieder in der
       Versenkung verschwand], selbiger auf freien Fuß kam und noch dazu zwei
       hochrangige Polizeichefs abserviert wurden, ist in der gelenkten Demokratie
       von Dauerherrscher [2][Wladimir Putin] schon bemerkenswert. Dabei sind alle
       diese Entscheidungen mit dem Begriff Willkür hinreichend beschrieben.
       
       Mindestens genauso bemerkenswert sind jedoch auch bestimmte Begleitumstände
       des Falls, die bekannten Mustern folgen. Eine Anklage wegen vermeintlichen
       Drogenbesitzes, so absurd sie sein mag, erscheint offensichtlich immer noch
       als probates Mittel, um unbequeme VolksgenossenInnen aus dem Verkehr zu
       ziehen. Man denke nur an den tschetschenischen Menschenrechtler Ojub
       Titijew, der im vergangenen März wegen Drogendelikten zu vier Jahren
       Straflager verurteilt wurde, in wenigen Tagen jedoch unter Auflagen aus der
       Haft entlassen werden soll. Auch die Misshandlung Golunows in
       Polizeigewahrsam gehört in Russland zu den gängigen Umgangsformen mit
       Beschuldigten. Glücklich schätzen darf sich da noch derjenige, der, wie
       Golunow, mit ein paar gebrochenen Rippen davonkommt.
       
       Auch bei einer Solidaritätsaktion für den Medienmann am Mittwoch in Moskau
       walteten die Ordnungskräfte in gewohnter Manier ihres Amtes: Rund 400
       Festnahmen – darunter wieder einmal der Blogger und Antikorruptionskämpfer
       Alexei Nawalny. Dessen Gewährsmann und Aktivist Leonid Wolkow wurde
       übrigens dieser Tage zu 15 Tagen Haft verurteilt, weil er 2018 in St.
       Petersburg eine Kundgebung gegen eine Erhöhung des Rentenalters organisiert
       haben soll.
       
       Angesichts dieser Gemengelage scheint die Freilassung Golunows weniger ein
       Anzeichen für ein erwachendes Rechtsstaatsbewusstsein bei den
       Verantwortlichen, als vielmehr ein Versuch zu sein, „Druck aus dem Kessel“
       zu nehmen. Und dort dampft es gewaltig. Laut einer Umfrage des staatlich
       finanzierten Instituts VtsIOM von diesem Mai vertrauen gerade noch 31,7
       Prozent der Befragten ihrem „Lider“ Wladimir Putin – der niedrigste Wert
       seit 2006.
       
       ## Einfach durchregieren, das war mal
       
       Vor dem Hintergrund, dass sich eine Verbesserung der Wirtschaftslage wie
       angekündigt nicht einstellen will, können immer weniger RussInnen den
       kostspieligen Abenteuern des Kreml auf der Krim, in der Ostukraine und in
       Syrien etwas abgewinnen. Ihren wachsenden Unmut tragen die Menschen immer
       häufiger auf die Straße. Mit überraschendem Ausgang, wie das Beispiel der
       viertgrößten Stadt Jekaterienburg zeigt. Dort protestierten AnwohnerInnen
       hartnäckig gegen den Bau einer orthodoxen Kirche in einem beliebten Park.
       Jetzt wird ein anderer Platz für das Gotteshaus gesucht.
       
       Die Frage ist nun, ob derartige Erfolgserlebnisse ein punktuelles Ereignis
       bleiben oder die Zivilgesellschaft ermutigen und insgesamt nachhaltig zu
       stärken vermögen. Das jedoch würde bedeuten, dass die Staatsmacht künftig
       mit dieser Größe rechnen muss – nach dem Motto: Einfach durchregieren, das
       war mal.
       
       Genauso wichtig ist, wie sich das Zusammenspiel innerhalb der
       Machtstrukturen entwickeln wird. Ist die Vormachtstellung von Putin im
       Apparat noch so unangefochten, wie er nach innen und außen hin gern glauben
       machen würde? Oder deutet nicht auch der Fall Golunow darauf hin, dass
       entscheidende Strippen mittlerweile woanders gezogen werden? Wie dem auch
       sei: Es bewegt sich etwas in Russland, vorerst ein Lüftchen noch. Ob daraus
       ein „Wind of Change“ entsteht, wird sich zeigen. Vielleicht schon bald.
       
       15 Jun 2019
       
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   DIR Barbara Oertel
       
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