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       # taz.de -- Umgang mit Antisemitismus: Unsichtbar und frei
       
       > Was geht es denn euch an, wer ich bin? Unser Autor, ein jüdischer
       > Schriftsteller, plädiert für das Recht, seine Identität verbergen zu
       > können.
       
   IMG Bild: Sich in der Masse frei fühlen – das geht besser ohne Kippa. Und das muss okay sein, sagt Grünberg
       
       Neulich sprach ich mit Lody van de Kamp, dem Rabbi der jüdisch-orthodoxen
       Gemeinde. Wir trafen uns in einem koscheren Restaurant in Buitenveldert,
       einer größtenteils jüdischen Nachbarschaft in Amsterdam. „Hier können sie
       uns in freier Wildbahn sehen“, scherzte er. „So wie man in De Baarsjes
       [auch ein Viertel in Amsterdam] hauptsächlich Muslime finden kann.“
       
       Der Rabbiner hat eine Methode entwickelt, um die Polarisierung zwischen
       unterschiedlichen Gemeinschaften zu bekämpfen; sie richtet sich vor allem
       an junge Menschen. „Antisemitismus gibt es seit Ewigkeiten, und er wird
       nicht verschwinden“, sagt er, „aber ich glaube nicht daran, dass er heute
       ein größeres Problem darstellt als noch vor zehn Jahren. Außerdem ist es
       gefährlich für die jüdische Gemeinde, sich so sehr vom Antisemitismus
       aufsaugen zu lassen – lassen wir uns nicht auf die Menschen reduzieren, die
       uns hassen.“
       
       Aber natürlich, antisemitische Vorfälle nehmen zu in Europa und den USA.
       Und gleichzeitig behauptet die extreme Rechte gern, dass dieses Problem
       ausschließlich durch muslimische Migranten verschärft wird. Die PVV mit
       Geert Wilders in den Niederlanden, Rassemblement National mit Le Pen in
       Frankreich, die AfD in Deutschland – jede dieser Parteien behauptet, mit
       Israel zu sympathisieren, sie alle positionieren sich als Verteidiger der
       europäischen jüdischen Gemeinschaften und gegen Muslime, die angeblich
       Juden hassen. Wie die New York Times festgestellt hat, scheinen allerdings
       inzwischen 55 Prozent der AfD-Anhänger zu glauben, Juden hätten zu viel
       Macht, während „nur“ 22 Prozent aller Deutschen die gleiche Aussage
       unterstützen.
       
       Jeder Mensch kann wissen, dass die Feindseligkeit gegen Muslime ein
       Ausdruck der Feindseligkeit gegen den Anderen ist, und Juden bleiben 2019
       dieser „Andere“. Ich bin in den siebziger und achtziger Jahren in Amsterdam
       aufgewachsen, als Sohn deutsch-jüdischer Einwanderer, die den Krieg
       überlebt hatten. Auf dem Weg in die Synagoge durfte ich keine [1][Kippa]
       tragen. Während wir unsere Sommerferien in Deutschland verbrachten,
       verheimlichten wir, dass wir Juden waren, und gaben vor, „normale“ Deutsche
       zu sein, die in den Niederlanden lebten.
       
       Ein Psychotherapeut sagte mir, Geheimnisse können Traumata verursachen,
       aber ich habe diese Geheimhaltung nie als traumatisch erlebt. Es geht
       niemanden etwas an, wer ich bin oder wer ich nicht bin, wenn ich in der
       Öffentlichkeit stehe. Es ist nicht jeder Minderheit möglich, aber manchmal
       kann man sich verbergen, man muss seine Geheimnisse nicht ständig
       preisgeben. Vielleicht liegt der eigentliche Kern der Integration sogar in
       dem Recht, unsichtbar zu sein. Gerade wenn man die Schrecken der
       auferlegten Anpassung im Kopf behält.
       
       Überall sehen wir den Niedergang der europäischen Tabus aus der zweiten
       Hälfte des 20. Jahrhunderts. Lange Zeit hegten viele Menschen die Illusion,
       dass die Schatten der Schoah den Antisemitismus in Europa sozial geächtet
       halten würden. Der Staat Israel erwies sich jedoch als schwieriger Faktor,
       viele Menschen sind bis heute nicht in der Lage oder nicht willens,
       zwischen israelischer Politik und den Juden zu unterscheiden. Was oft zur
       antisemitischen Vorstellung führte, dass im Nahen Osten Juden die
       Unterdrücker sind. Vielleicht müssten die Menschen erst einmal verstehen,
       dass die Opferrolle nicht dasselbe ist wie ein Heiligtum.
       
       Antisemitisches Gedankengut wurde nach 1945 also keinesfalls ausgerottet,
       und der Aufstieg eines verjüngten Antisemitismus ist nun zudem ein Symptom
       dafür, dass der Zweite Weltkrieg aus den Augen verloren wird.
       
       Der Hass auf den Anderen kann und wird immer rationalisiert werden; der
       Jude als Bolschewist, das war verbreitet um 1930; der Muslim als Terrorist,
       diese Verknüpfung gibt es seit Anfang dieses Jahrhunderts; von der
       Vorstellung, dass Juden die Weltbank und Hollywood kontrollieren, erzählte
       mir ein Pastor in Phoenix, Arizona, diese [2][Verschwörungstheorie]
       existiert, seit es Hollywood und die Weltbank gibt. Eine bessere Bildung
       mag manches ausrichten, ist aber keineswegs ein Allheilmittel. Vor ein paar
       Jahren kam eine freundliche Dame nach einem Vortrag in Deutschland auf mich
       zu und sagte: „Ich bin so froh, dass Sie lächeln, ich habe noch nie einen
       Juden lächeln gesehen.“
       
       ## Vorurteile bleiben, so lange es Menschen gibt
       
       „Ja, wir lächeln auch gelegentlich“, antwortete ich. Sie war gebildet. Ich
       sage das nur, um zu veranschaulichen, dass Vorurteile so lange bestehen
       werden, solange es Menschen gibt. Entscheidend ist, wie wir mit ihnen
       umgehen und ob Politiker sie für Wahlgewinne ausbeuten können.
       
       In der heutigen Zeit, so scheint es, sind wir verpflichtet, unsere
       Identitäten zur Schau zu stellen, aber vergessen wir nicht unser Recht auf
       Geheimnisse oder das Recht auf eine geheime und fließende Identität, die
       mir gehört, egal was andere Menschen darüber auch denken. Meine Schwester
       in Israel würde das „Ghettomentalität“ nennen, aber ich glaube, dass dieses
       Recht auf Unsichtbarkeit von grundlegender Bedeutung ist. Ich glaube
       nämlich auch, dass es nicht nur aus einer Angst heraus wichtig ist, sondern
       aus einem tief verwurzelten Hunger nach Freiheit.
       
       Ich übe das Recht aus, nicht hineinzupassen. Das ist eine andere Art, zu
       sagen: Ich übe mein Recht auf Einsamkeit aus. Wer ich bin, soweit wir das
       überhaupt über uns selbst wissen können, geht niemanden etwas an,
       bestenfalls nur meine Freunde und Lieben, vielleicht meine Leser. Aber auch
       vor denjenigen, mit denen wir unser Bett teilen, können und werden wir
       unsere Geheimnisse haben.
       
       20 Jun 2019
       
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