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       # taz.de -- Präsidentschaftswahl in Kasachstan: Schöne Fassade
       
       > Interimspräsident Qassym-Schomart Tokajew steht als Sieger so gut wie
       > fest. Doch im Volk gärt es: Proteste vor allem junger Aktivisten dauern
       > an.
       
   IMG Bild: Steht nicht für Erneuerung: Präsidentschaftskandidat Qassym-Schomart Tokajew
       
       Berlin taz | „Die Fernsehdebatten zwischen den Kandidaten? Lächerlich. Das
       waren keine Debatten. Die Beteiligten haben einfach nur ihre Wahlprogramme
       vorgelesen“, sagt der kasachische Journalist Aleksandr Werwekin aus der
       Provinzstadt Pawlodar. „Die Ergebnisse stehen doch jetzt schon fest.“
       
       Wie Werwekin rechnet kaum jemand am kommenden Sonntag mit Überraschungen.
       Dann sind rund 12 Millionen KasachInnen aufgerufen, über ein neues
       Staatsoberhaupt abzustimmen. Sieben Kandidaten stehen zur Wahl – davon
       erstmals eine Frau. Erhält niemand mehr als 50 Prozent der Stimmen, findet
       innerhalb von zwei Monaten eine Stichwahl statt.
       
       Allein die Tatsache, dass die BewohnerInnen des an Rohstoffen reichen
       zentralasiatischen Staaten überhaupt an die Urnen gerufen werden, ist eine
       Premiere. Am 19. März 2019 hatte der damalige Staatspräsident Nursultan
       Nazarbajew in einer Fernsehansprache überraschend angekündigt, seinen
       Posten niederzulegen. Zur Begründung hieß es, dass er einen
       Generationswechsel einleiten wolle.
       
       Der heute 78-Jährige war 29 Jahre lang Staatschef. Zunächst ab April 1990
       als Vorsitzender des Obersten Sowjets der damaligen sowjetischen Republik
       Kasachstan. Nach der Unabhängigkeit des Landes 1991 wurde er zum
       Präsidenten gewählt. Bei den letzten Wahlen für das höchste Staatsamt 2015
       fuhr er, offiziellen Angaben zufolge, 97,7 Prozent der Stimmen ein.
       
       ## Kein Rückzug
       
       Doch von einem Rückzug Nazarbajews kann keine Rede sein. Er führt den Titel
       „Jelbasy“ („Führer der Nation“), mit dem er weiter als Vorsitzender des
       Nationalen Sicherheitsrats agieren kann. Dieser erhielt 2018 den Rang eines
       Verfassungsorgans und koordiniert unter anderem die Arbeit der
       Geheimdienste. Zudem bleibt Nasarbajew Chef der Regierungspartei „Nur
       Otan“.
       
       Das Amt des Präsidenten bekleidet seit Nazarbajews Abgang Qassym-Schomart
       Tokajew, ein enger Vertrauter von Nazarbajew und bis März dieses Jahres
       Präsident des kasachischen Senats. Mit 66 Jahren symbolisiert er allerdings
       kaum eine Verjüngung der politischen Elite in Kasachstan, wenngleich
       entsprechende nachbearbeitete veröffentlichte Fotos etwas anderes glauben
       machen wollen.
       
       Dass Tokajew das Rennen macht, steht außer Frage. Ernst zu nehmende und
       reale Gegenkandidaten gibt es nicht, da alle als regierungs- und linientreu
       gelten. Mit einer Ausnahme: Amirzashan Kossanow, den das national
       patriotische Bündnis „Ult Tagdyry“ nominiert hat und dessen Zulassung bei
       den Wahlen Beobachter mit Erstaunen quittierten.
       
       Die Frage sei, schreibt Joanna Lillis auf dem Webportal eurasianet.org,
       wieviel Prozent ihm zugestanden würden. Kossanow selbst verstehe nur allzu
       gut, dass diese Wahl nichts damit zu tun habe, ob er vielleicht an die
       Macht kommen könne.
       
       ## Im Volk brodelt es
       
       Ob die nachträgliche Legitimation des Ämtertauschs an der Staatsspitze so
       geschmeidig vonstatten geht, wie von den Herrschenden gewünscht, darf
       bezweifelt werden. Denn im Volk rumort es. Bereits im Februar, nachdem fünf
       Kinder bei einem Hausbrand in Abwesenheit ihrer arbeitenden Eltern ums
       Leben gekommen waren, protestierten Dutzende Frauen für mehr staatliche
       finanzielle Unterstützung von Familien.
       
       Im März kam es in mehreren größeren Städten zu Protesten, nachdem die
       Regierung beschlossen hatte, die Hauptstadt Astana zu Ehren des ehemaligen
       Dauerherrschers Nazarbajew in Nur-Sultan umzubenennen.
       
       Seit April treten immer mal wieder junge Aktivisten mit kreativen Aktionen
       an die Öffentlichkeit, bei denen auch zu einem Boykott der Wahlen
       aufgerufen wird. Am 21. April wurde ein Banner während des Almaty-Marathons
       zum Politikum. Darauf stand: „Vor der Wahrheit kann man nicht weglaufen –
       Wir haben eine Wahl!“ Den Aufruf bezahlte die Urheberin Asija Tulesowa mit
       15 Tagen Ordnungshaft.
       
       Für fünf Tage in Haft wegen Rowtytums fand sich im April auch ein Aktivist
       wieder, der ein Banner mit der Aufschrift „Die einzige Quelle der
       staatlichen Gewalt ist das Volk“ an einer Brücke befestigt hatte. Dieser
       Satz steht übrigens in der kasachischen Verfassung. Selbst ein Blogger, der
       sich quasi im Selbstversuch auf einem zentralen Platz in seiner Heimatstadt
       Uralsk mit einem leeren Transparent aufgestellt hatte, wurde nach wenigen
       Minuten von der Polizei abgeführt.
       
       ## Grassierende Korruption
       
       Gründe für die wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung gibt es viele.
       Für den kasachischen Politologen Danijar Aschimbajew sind das neben der
       grassierenden Korruption vor allem auch Versäumnisse in der Sozialpolitik.
       
       Dabei gehe es um Dinge wie Preise, Tarife und soziale Absicherung. Darum
       habe sich die Regierung mehrere Jahre nicht gekümmert, schreibt er in einem
       Kommentar für das Portal Informburo.kz, den die Webseite novastan.org
       zitiert.
       
       Wie dem auch sei: Man darf gespannt sein, wie die Regierung mit der
       Protestbewegung künftig umgehen wird, die vor allem in den sozialen
       Netzwerken immer mehr Platz greift. Und dort sind mittelerweile auch längst
       nicht nur junge Leute unterwegs.
       
       8 Jun 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Oertel
       
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