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       # taz.de -- Ehrenvorlesung in Frankfurt: In Flip-Flops zu Habermas
       
       > Wie beim Konzert einer Rocklegende: Der bedeutende Philosoph kehrt für
       > eine Ehrenvorlesung an seine Alma Mater zurück.
       
   IMG Bild: Etwas düsterer, zaghafter als früher: Philosoph Jürgen Habermas
       
       Frankfurt taz | Ohne Frage die Veranstaltung des akademischen Jahres.
       Geschäftigkeit wie bei dem Konzert einer Rocklegende. Insgesamt sind es
       3.000 Zuhörer, darunter ganze Schulklassen, verteilt auf fünf Hörsäle samt
       Videoübertragung, die gekommen sind, um dem bedeutendsten deutschen
       Philosophen der Gegenwart aus Anlass seines 90. Geburtstags die Ehre zu
       erweisen.
       
       Sein Vortrag ist eine Rückkehr an die Alma Mater, an der Jürgen Habermas,
       mit Unterbrechungen, über Jahrzehnte lehrte, forschte und die Frankfurter
       Schule repräsentierte. Eine Uni, an der er, wie er einräumt, in den 80er
       Jahren seine fruchtbarste Zeit als Wissenschaftler erlebte.
       
       Zwei Stunden vor Beginn des Vortrags mit dem Titel „Noch einmal: Zum
       Verhältnis von Moralität und Sittlichkeit“ musste in der Reihe stehen, wer
       Einlass wollte in den Saal, in dem auch der Redner physisch anwesend war.
       Das Spektrum der Gäste spiegelt die geisteswissenschaftlich enorm
       einflussreiche Tradition, für die Habermas steht, der in den 50er Jahren,
       frisch promoviert, als Assistent Adornos nach Frankfurt kam und später hier
       auf den Lehrstuhl für Philosophie und Soziologie des emeritierten Max
       Horkheimer berufen wurde.
       
       Die linksliberale Intelligenzija von Oskar Negt bis Claus Offe geben sich
       genauso die Ehre wie der US-Theoriezweig, vertreten von den feministischen
       Philosophinnen Seyla Benhabib und Nancy Fraser. Um eine „Frankfurter
       Ikone“, um lebendige Zeitgeschichte zu erleben, sind auch zahlreiche
       Frankfurter gekommen. Ein Vater und seine 16-jährige Tochter, er in
       Flip-Flops, sie bauchfrei, haben es leider nur in den zugeschalteten
       Hörsaal geschafft. Er hat vor langer Zeit – da war die Uni noch
       „politischer und kritischer“, irgendwie lebendig und radikal – Soziologie
       und auch „etwas Habermas“ studiert. Sie versteht nichts von dem, was gesagt
       wird, will aber reinlesen.
       
       ## Und mittendrin: Feueralarm!
       
       Tatsächlich sind Habermas’ Ausführungen zur Moral und Sittlichkeit keine
       leichte Kost, keine Einführung in ein Denken, das seine Blütezeit hinter
       sich hat. Sie zeugen von einem durchgängig anspruchsvollen „philosophisch
       nachdenkenden Wissenschaftler“, wie er sich selbst beschreibt. Es geht,
       stark philosophiegeschichtlich aufgezogen, um das Verhältnis zwischen Kant
       und Hegel, genauer, darum, ob abstrakten moralischen Prinzipien (Kant) oder
       gelebten historischen Gesellschaftsformen (Hegel) der Vorrang zu geben ist.
       
       Später wird sich Habermas als Kantianer outen. Als einer jedoch, der noch
       eine Portion Hegel und Marx dazunimmt und der an die Bedeutung von
       historischer Erfahrung genauso glaubt wie daran, dass sich die kantischen
       moralischen Prinzipien im universalistischen Kern liberaler Verfassungen
       erkennen lassen. Die Gretchenfrage der Philosophie deutscher Prägung (Kant
       oder Hegel?) umgeht er durch die geschickte Vermittlung beider Positionen.
       
       Zwischendurch hallt plötzlich eine Automatenstimme durch das
       Hörsaalgebäude: Feueralarm. Eine gezielte Störung, vermuten einige. Eine
       Aktion politischen Protests? Später wird sich zeigen, dass der Feueralarm
       tatsächlich bewusst ausgelöst wurde. Es dauert eine Weile, bis die heiter
       bis rührig gestimmten Zuhörer das Gebäude verlassen und wieder betreten
       haben. „Ich versteh kein Wort von dem, was er über Kant sagt“, hört man
       nicht selten aus der Menge. Warum aber wollen sie ihn alle sehen, wofür
       steht dieser Denker? Ist es der Umstand, dass vielleicht kein Philosoph
       nach ihm jemals wieder zwei Rollen, die des Wissenschaftlers und
       öffentlichen Intellektuellen, so verbindlich und engagiert verkörperte?
       
       Was seine philosophiegeschichtlichen Ausführungen konkret politisch
       bedeuten, kommt nur in den letzten fünf Minuten der Rede vor. Dafür aber
       vorgetragen in einem Ton, der an der Dringlichkeit keinen Zweifel lässt.
       Angesichts eines bedrohlichen, „weltweit entfesselten Finanzkapitalismus“
       müssen die schwächelnden europäischen Staaten zusammenrücken und ein
       gemeinsames politisches Gehäuse hervorbringen, um das „bornierte
       Bewusstsein ihrer nationalstaatlichen Kulturen“ zu durchbrechen.
       
       „Denn nur im Zuge grenzüberschreitender Kontroversen“ können sich die
       Staaten zu ihren gemeinsamen Werten bekennen. „Sie merken“, sagt Habermas,
       „dass meine Sätze im Irrealis formuliert sind.“ Heutzutage versiege die
       Hoffnung allmählich, besonders weil die politischen Eliten ihren
       Gestaltungswillen verloren haben und sich „von einer ideologisch
       aufgebauschten gesellschaftlichen Komplexität“ entwaffnen lassen. [1][Zu
       seinem 90. Geburtstag] erneuert Habermas das Bekenntnis zur transnationalen
       Demokratie. Sein philosophisches Nachdenken mündet in einer konkreten
       realpolitischen Bezugnahme auf die Europäische Union, die sich ihrer
       eigenen kosmopolitischen Verpflichtungen stärker bewusst werden sollte.
       Nach jahrzehntelangen Debatten klingt er etwas düsterer, zaghafter als
       früher.
       
       20 Jun 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /90-Geburtstag-von-Juergen-Habermas/!5600386
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Miryam Schellbach
       
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