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       # taz.de -- Berlin plant neues Vergabegesetz: Es ist fair angerichtet
       
       > Großer Wurf oder Bürokratiemonster? Das Land will ab 2020 mit
       > öffentlichen Aufträgen stärker gute Arbeit mit mehr Lohn und die Umwelt
       > fördern.
       
   IMG Bild: Koch Sebastian Drews mit Zweihand-Schneebesen an der Bratwanne
       
       Eine relevante Masse an vegetarischer Spaghetti bolognese blubbert im
       Kochtopfbecken der Großküche. Sebastian Drews, einer von 30 Köchen hier,
       rührt mit einem Zweihänder-Schneebesen durch 1.200 Portionen Tomatensauce.
       Zuvor hat er 20 Kilo Zwiebeln in sehr viel Öl angeschwitzt. Gegenüber kocht
       sein Kollege Marko Kaebert 2.000 Portionen Spaghetti. Zum Umrühren benutzt
       er eine Schaumkelle, mit der man wohl notfalls auch ein Paddelboot
       voranbringen könnte. Für das Abschrecken seiner drei Kochtrommeln mit je 40
       Kilo Spaghetti benutzt er jeweils 150 Liter Wasser.
       
       Rund 17.000 Essen werden hier täglich hergestellt. Das sind Mengen, bei
       denen es einen Unterschied macht, ob das Essen Bio ist oder nicht. Und
       allein in dieser Schicht kommen über 200 Kilogramm Bio-Nudeln in die Töpfe.
       
       Die Firma Drei Köche ist ein auf Kitas und Schulen spezialisierter
       Catering-Dienst, der vor wachsenden Herausforderungen steht. Denn der
       Berliner Senat hat beschlossen, schon zum nächsten Schuljahr kostenloses
       Schulessen für alle Schüler*innen von der ersten bis zur sechsten Klasse
       einzuführen. Ein schneller und rigoroser Schritt, der teilweise die
       Kapazitäten der Schulen überlastet.
       
       Klaus Kühn, einer der Geschäftsführer des Caterers Drei Köche, findet den
       Schritt dennoch richtig – insbesondere für Kinder aus armen Familien, weil
       komplizierte Anträge für Kostenbefreiung wegfielen und niemand hungrig
       bleiben müsse. „Einige Kinder kommen am Montag in die Schule und essen wie
       ein erwachsener Mann, weil sie am Wochenende zu wenig bekommen haben“, sagt
       Kühn. Der Caterer mit 30 Köchen und 270 Mitarbeiter*innen an den
       Schulmensen bekocht im Auftrag des Landes Berlin bisher 65 Schulen und zehn
       Kitas.
       
       ## Arbeitsnormen, Vergabemindestlohn, Bio-Lebensmittel
       
       Die Firma ist eine von zahlreichen Betrieben, die an Berlins neuem
       Vergabegesetz gebunden sind, das ab 2020 greifen soll. Um Schulen mit Essen
       zu beliefern, muss das Unternehmen sich auf eine öffentliche Ausschreibung
       bewerben, in der aufgeführt ist, was der Bezirk erwartet. Das beginnt bei
       Arbeitsnormen und einem Vergabemindestlohn und geht weiter mit dem Anteil
       der zu verwendenden Bio-Lebensmittel. Jede Bewerbung füllt einen ganzen
       Aktenordner.
       
       Rot-Rot-Grün hat beim Regierungsantritt 2016 im Koalitionsvertrag für die
       Erneuerung des Vergabegesetzes zwei auf den ersten Blick widersprüchliche
       Dinge versprochen: Das Vergaberecht sollte weniger Bürokratie für kleine
       und mittelständische Unternehmen bedeuten und gleichzeitig wollte der Senat
       soziale und ökologische Kriterien verschärfen – die in der Regel allerdings
       mehr Papierkram bedeuten.
       
       Anfang dieser Woche präsentierte die federführende Senatsverwaltung für
       Wirtschaft von Ramona Pop (Grüne) einen Entwurf für ein neues
       Vergabegesetz, das noch im Herbst im Abgeordnetenhaus beschlossen werden
       und dann ab 2020 gelten könnte.
       
       Und tatsächlich scheint Pop beides unter einen Hut zu bekommen: Es finden
       sich nun sowohl weniger Bürokratie als auch mehr sozialökologische
       Kriterien im neuen Vergabegesetz. Der Landesmindestlohn für öffentliche
       Aufträge wird angehoben von 9 auf stattliche 11,90 Euro und Pop führt die
       Tariftreue ein – eine der Kernforderungen der Gewerkschaften. Damit sind
       Firmen bei staatlichen Aufträgen zumindest an die unterste Stufe des
       öffentlichen Tarifs gebunden. Gleichzeitig sollen künftig ökologische und
       nachhaltige Angebote bei Vergaben deutlich bevorzugt werden.
       
       ## Entbürokratisierung versprochen
       
       Und die versprochene Entbürokratisierung soll es zumindest für kleinere und
       mittelständische Unternehmen geben. Denn – und das ist das Zugeständnis an
       die Wirtschaft – alle diese wiederum mit viel Papierkram nachzuweisenden
       sozialökologischen Kriterien greifen erst ab einem Schwellenwert von 10.000
       Euro für Liefer- und Dienstleistungen und ab 50.000 Euro für das
       Baugewerbe. Unterhalb dieser Werte gibt es abgespeckte Vergabeverfahren.
       
       Das heißt einerseits, dass kleine Bewerber eine Menge Papierkram sparen
       können, andererseits bedeutet es aber auch, dass der Vergabe-Mindestlohn
       von 11,90 nur für Aufträge ab 10.000 Euro gelten wird. Für alle darunter
       zählt weiter der gesetzliche Lohn von 9,17 Euro – und sozialökologische
       Kriterien sind freiwillig. Entsprechend verfängt an dieser Stelle Kritik.
       Denn wie viel Gewicht hat ein Vergabegesetz mit sozialökologischen
       Kriterien, wenn diese nur für einen Teil der Dienstleistungen und
       öffentlichen Beschaffungen gelten?
       
       Doch ganz so einfach ist es nicht. Was nämlich auch niemand will und schon
       gar nicht die als Wirtschaftssenatorin für Unternehmen zuständige Pop:
       wichtige Investoren mit überzogenen Vergabeforderungen zu verprellen.
       Ansonsten drohen Vergabestellen auf wichtigen Ausschreibungen ohne Angebot
       sitzen zu bleiben – wie es etwa bei Ausschreibungen für den Bau [1][von 30
       Kita-Einrichtungen in modularer Holzbauweise in Charlottenburg-Wilmersdorf
       der Fall war.] In dem Bezirk fehlen nun noch mehr Kita-Plätze als ohnehin
       schon, und es musste eine neue Ausschreibung gestartet werden.
       
       Zudem liegen laut Schätzungen der Verwaltung ohnehin 80 Prozent aller
       Aufträge über den Schwellenwerten. Nachhaltigkeit werde also überwiegend
       zur Pflicht. Pop sagte der taz: „Wir schlagen ein wirtschaftsfreundliches
       Gesamtpaket vor, das auch soziale und ökologische Kriterien berücksichtigt
       und die unterschiedlichen Interessen zusammenbringt.“ Das Land Berlin
       brauche immense Investitionen von Unternehmen und sozialökologischen Ziele
       – „wir haben allen Spielraum im Hinblick auf unsere politischen Ziele
       genutzt“, sagt Pop.
       
       ## Auftragsvolumen von 5 Milliarden Euro
       
       Tatsächlich ist das Vergaberecht ein politisch unterschätztes Instrument.
       Denn der Senat hat mit einem geschätzten Auftragsvolumen von 5 Milliarden
       Euro ein gehöriges Gewicht. Wenn es gelingt, einen großen Teil dieses
       Geldes in gute Arbeit und nachhaltige Beschaffung zu lenken, wäre das ein
       wichtiger Faktor. Überbietet die öffentliche Hand den gesetzlichen
       Mindestlohn von 9,17 Euro, hebt sich das allgemeine Lohnniveau.
       
       Darüber hinaus kaufen staatliche Stellen natürlich neben Dienstleistungen
       nicht gerade wenige Produkte ein, von denen möglichst viele fair gehandelt
       sein sollen. Allein wenn man sich die 30 Tonnen Reis, die 120.000 Bananen
       oder die 20.000 Ananas vorstellt, die laut Schätzungen monatlich an Berlins
       Schulen verzehrt werden und die möglichst bio sein sollen, bekommt man
       schon eine Idee von der Dimension einer politisch gestalteten Vergabe. Wenn
       sie denn funktioniert.
       
       In der Großküche der Drei Köche sind bereits 55 Prozent der Zutaten
       Bioprodukte. Die Nudeln und die Bolognese für heute sind bio, die
       Kartoffeln für den Quark am kommenden Montag hingegen sind es nicht.
       Geschäftsführer Kühn fährt mit einem SUV zu einer Grundschule am
       Kollwitzplatz in Prenzlauer Berg. Hier werde der wichtigste Teil der Arbeit
       erledigt, sagt er: die Essensausgabe an die Schüler.
       
       Dafür ist eine herzliche Frau verantwortlich: Kazimiera Centner, die jedes
       Kind genau fragt, was es denn haben wolle. Freundlich, aber bestimmt
       verteilt sie Eintopf, Kartoffeln, Fischfilet und Salat: „Heute nur
       Kartoffeln und keine Soße? Ok, aber morgen dann wieder mit Gemüse, gut?“
       Jedem Kind wünscht sie einen guten Appetit. Die Hortkinder, die gerade zu
       Tisch gehen, bedanken sich. Wenn ein Kind keinen Fisch will – es ist
       Freitag –, darf das nächste gern zwei haben, wenn es denn mag. Die Kinder
       finden das gut, und tatsächlich schmeckt der verkostete Erbseneintopf wie
       frisch gemacht und lecker.
       
       ## Spitzenreiter für Vergabemindestlohn
       
       Kühn sagt, dass er Mitarbeiterinnen wie Centner, welche in seinem Betrieb
       hauptsächlich an der Ausgabe arbeiteten, gern in größerem Umfang
       beschäftigen würde. Die meisten der 270 Mitarbeiter*innen an der Ausgabe
       arbeiteten nur in Teilzeit-Jobs und für den Mindestlohn. Viele müssten
       ergänzend aufstocken. Tatsächlich ist die sogenannte Minijob-Falle eine
       Form der prekären Beschäftigung, von der zum Großteil Frauen betroffen
       sind. Bei den Drei Köchen haben laut Kühn nur zwei Mitarbeiter*innen
       Mini-Jobs. Viele seien zwar in Teilzeit, aber zumindest
       sozialversicherungspflichtig beschäftigt.
       
       In der öffentlichen Gemeinschaftsverpfelgung arbeiten ingesamt laut
       Arbeitsagentur allerdings relativ viele Personen in Mini-Jobs auf
       450-Euro-Minijob-Basis und müssen mit Sozialhilfe aufstocken. Das
       begünstigt Altersarmut und betrifft oft alleinerziehende Mütter ((siehe
       Kasten).
       
       Mit der neuen Novelle steht Centner in jedem Fall ein besserer Mindestlohn
       zu. Geschützt vor Altersarmut ist sie allein damit noch nicht. Auch
       deswegen würde Kühn sich für die Schulverpflegung wünschen, dass Essen
       integraler Bestandteil des Schulalltags würde. Er sagt: „Es wäre ideal,
       wenn es eine Frühstücks-, Mittags- und Nachmittagsausgabe gebe würde, so
       wie in der Kita auch – dann wären wir raus aus der Teilzeitfalle und
       könnten die Ausgabekräfte länger beschäftigen. Sechs Stunden würden ja
       schon reichen für eine bessere Altersvorsorge.“
       
       Bundesweiter Spitzenreiter für Vergabemindestlohn wird Berlin mit der
       Novelle in jedem Fall. Und auch die Implementierung von Nachhaltigkeits-
       und Umweltkriterien sowie von beschäftigungspolitischen Maßnahmen ist nicht
       selbstverständlich, wenn man in andere Länder schaut: Zuletzt gab es einen
       Rollback in Nordrhein-Westfalen, wo Schwarz-Gelb [2][Regelungen] zu
       Umweltschutz, Frauenförderung und Arbeitsrechten kassierte, und [3][im
       Jamaika-regierten Schleswig-Holstein] ist [4][Nachhaltigkeit nur noch
       freiwillig] – beide Gesetze widersprechen damit eigentlich dem Zeitgeist.
       
       Denn die Vorzeichen des Vergaberechts haben sich in den vergangenen Jahren
       geändert. Früher galt die eiserne Regel: Der Staat muss bei öffentlichen
       Ausschreibungen und Einkäufen immer das billigste Angebot annehmen –
       soziale und ökologische Kriterien galten als vergabefremd. Jurist*innen
       streiten zwar noch immer darum, doch mittlerweile ist es dank maßgeblicher
       EU-Richtlinien möglich, Vergaberecht auch zur politischen Gestaltung zu
       nutzen.
       
       ## „Geisel der Ministerialverwaltung“
       
       Die EU-Vorgaben sind zwar etwas schwammig, sehen aber nach Auffassung
       vieler Jurist*innen ausdrücklich vor, dass sozialökologische Faktoren sehr
       wohl eine Rolle spielen dürfen beim Ausgeben von Steuergeldern. Ganz
       abgesehen davon können natürlich auch nachhaltige Produkte auf längere
       Sicht günstiger sein, wenn längere Lebensdauer oder gar Klimaschäden
       einberechnet werden.
       
       Auf Klagen vor der Vergabekammer gegen die neuen Regelungen ist man in den
       Behörden natürlich trotzdem eingestellt. In den Vergabestellen schwingt
       laut einhelliger Meinung vieler Verwaltungsmitarbeiter*innen häufig auch
       Angst mit, bei Vergabeverfahren Fehler zu begehen. Manche sagen sogar: „Das
       Vergabegesetz ist die Geisel der Ministerialverwaltung.“ [5][Die klammen
       Bezirke stünden zwischen den Stühlen] – zwischen Sparzwang und
       Vergaberecht. Aus Furcht zögen sich Vergabestellen dann auf gerichtsfeste
       Punkte zurück, bei denen sie sich ganz sicher seien – und landeten wiederum
       bei niedrigen Preisen. Eine Folge davon sei die Niedrigpreiskonkurrenz und
       schlechte Löhne.
       
       Ein Problem dürfte dabei sicher fehlende Expertise sein. Berlin hat laut
       Senat schätzungsweise über 1.000 unterschiedliche Vergabestellen. Jede noch
       so poplige Verwaltungseinheit im Bezirk, jedes Amt, jedes Senatsreferat
       kann Aufträge, Dienst- und Lieferleistungen öffentlich ausschreiben und
       damit Vergabestelle sein. Wie viele Vergabestellen es in Berlin genau gibt,
       weiß niemand. Ramona Pop will deswegen zentralisieren und Expert*innen in
       je einer Vergabestelle pro Senatsverwaltung und Bezirk bündeln. Zudem soll
       ein elektronisches Verfahren eingeführt werden.
       
       Trotz der von Pop betonten Wirtschaftsfreundlichkeit des Gesetzes bekommt
       die grüne Senatorin viel Widerspruch aus der wirtschaftsfreundlichen Ecke:
       Die Kammern von Industrie- und Handwerk wehren sich. In einer [6][Berliner
       Erklärung] etwa positionierten sie sich deutlich gegen das reformierte
       Gesetz. Ein Hauptstreitpunkt sind dabei die Schwellenwerte. Die aktuell
       vorgesehenen 10.000 Euro sind aus Sicht von IHK und Opposition deutlich zu
       niedrig.
       
       ## „Hürden bleiben zu hoch“
       
       Die CDU bezeichnet sie als „völlig untauglich, um das Vergabeprozedere zu
       entschlacken“ und die FDP findet nach wie vor, dass sozialökologische
       Kriterien „im Vergaberecht nichts verloren haben“.
       
       Die IHK bemängelt, dass ein unterschiedlicher Mindestlohn in Berlin und
       Brandenburg Probleme bei der Personalkostenabrechnung nach sich zöge. Man
       hätte sich gewünscht, dass das Vergaberecht wirtschaftsfreundlicher würde:
       „Die Hürden bleiben zu hoch. Schon jetzt bewerben sich drei von vier
       Unternehmen erst gar nicht auf öffentliche Ausschreibungen“, sagt Susann
       Budras, Expertin für Vergaberecht der IHK.
       
       Auch die Unternehmen sind laut IHK daran interessiert, dass langfristige
       Konzepte und teurere Angebote angenommen würden. Dafür brauche es mehr
       Expert*innen in den Vergabestellen: „Wenn in den Vergabestellen weiter die
       Angst vor Formfehlern regiere, werde auch künftig das günstigste und nicht
       das wirtschaftlichste Angebot angenommen“, so Budras. Auch habe der Senat
       es in seiner Novelle versäumt, mehr Innovationsfreundlichkeit zu fördern –
       die IHK hätte es etwa gut gefunden, wenn innovative Konzepte und Techniken
       einen Wettbewerbsvorteil ähnlich wie faires Wirtschaften einbringen würde.
       
       Kritik gibt es auch von NGOs aus dem Fairgabebündnis, das sich für
       nachhaltige öffentliche Beschaffung einsetzt. Von Michael Jopp etwa, dessen
       offizielle Jobbezeichnung Fachpromoter für kommunale Entwicklungspolitik –
       also Lobbyist für faire Vergabe – ist. Jopp ist Anfang 30, trägt seine
       langen, dunklen Haare in einem Dutt, einen Backen- und Kinnbart, weißes
       T-Shirt und kurze Hosen. Er ist Ansprechpartner für viele Mitarbeiter*innen
       in der Verwaltung, wenn es um die Konkretisierung von fairer Vergabe geht.
       Seine Stelle wird vom Bund und dem Land bezahlt und ist Teil der Initiative
       „Eine Welt Stadt Berlin“.
       
       ## Zentralisiertes und digitalisiertes Beschaffungssystem
       
       Trotz der Fortschritte beim Mindestlohn und sozialen Kriterien, sieht Jopp
       das neue Vergabegesetz mit gemischten Gefühlen und hofft noch auf
       Verbesserungen: „Man müsste die Wertgrenzen für Beschaffung eigentlich auf
       500 Euro herabsetzen. Die nun festgelegten 10.000 Euro greifen nicht für
       alltägliche wichtige Anschaffungen wie etwa dem Kaffee in Verwaltung und
       Kantine oder dem kaputten Schreibtisch, den ein Mitarbeiter neu bestellt.“
       
       Mit Freiwilligkeit unterhalb der Wertgrenzen käme man nicht weit: „Man muss
       faire Beschaffung ganz klar auch in der Leistungsbeschreibung verankern
       können. Eigenerklärungen oder Absichtsbekundungen helfen da nicht weiter:
       Das ist dann auch nur der 18. Wisch, der unterschrieben und irgendwo
       abgeheftet wird.“
       
       Helfen könnte dabei aus Jopps Sicht ein zentralisiertes und digitalisiertes
       Beschaffungssystem und eine Positivliste. „Es braucht eine Art fairen
       Otto-Katalog, in dem sozial-ökologische Produkte und Dienstleistungen
       aufgeführt sind, welche die geforderten Kriterien erfüllen.“ Insgesamt sei
       er allerdings froh, „dass das neue Vergaberecht kommt, aber es muss
       letztlich auch in der Praxis funktionieren“, sagt Jopp und hofft auf klare
       Verwaltungsvorschriften für faire Kriterien.
       
       Während es also bei der nachhaltigen Beschaffung und Fair Trade noch einige
       Fragezeichen gibt, könnte die verankerte Tariftreue und der höhere
       Mindestlohn deutlichere Folgen haben.
       
       ## Reinigungsgewerbe könnte profitieren
       
       Ein Feld, wo sich rasch Erfolge einstellen könnten, sind etwa das
       Reinigungsgewerbe und andere Niedriglohnsektoren. Viveka Ansorge von
       Joboption Berlin, einem vom Senat geförderten Projekt für bessere
       Arbeitsbedingungen, sagt zum neuen Vergabegesetz: „Wenn es richtig gemacht
       wird, könnte Bewegung in prekäre Beschäftigungsfelder kommen – das betrifft
       auch die sogenannte Minijob-Falle.“ Durch einen höheren Mindestlohn müssten
       etwa Reinigungskräfte sehr viel weniger arbeiten, um 450 Euro zu erreichen.
       „Bleiben sie jedoch bei der Stundenzahl, rutschen sie durch den höheren
       Lohn in einen Midi-Job mit vollständiger Sozialversicherung. Das ist
       positiv“, sagt Ansorge.
       
       Einer, der sich mit praktischem Saubermachen auskennt, ist Christian
       Heistermann. Er ist selbstständiger Meister in der Gebäudereinigung und ein
       echter Tatortreiniger. Er ist Mitte 50, groß, hat ein breites Kreuz und
       raucht Kette. Sein in Mahlsdorf sitzender Betrieb läuft gut – auch dank
       voller Auftragsbücher aus der Privatwirtschaft. Sein Prestigeobjekt ist der
       Fernsehturm am Alexanderplatz, den seine Fachkräfte nachts sauber machen.
       
       Zu dem noch bestehenden Vergaberecht sagt Heistermann: „Öffentliche
       Aufträge nehme ich grundsätzlich ungern an, weil ich meine Mitarbeiter
       nicht so schlecht bezahlen will.“ Mit anständigen Löhnen sei man in
       öffentlichen Ausschreibungen wie etwa bei der Schulreinigung nicht mal
       entfernt konkurrenzfähig. Er selbst zahle zwischen 11 und 12 Euro. „Bei
       dem, was die öffentliche Hand bezahlt, denke ich mir: ‚Mach doch deinen
       Dreck alleine weg!‘“
       
       ## Mehr Lohn – aber dann weniger Stunden
       
       Die Vorgabe, nach denen etwa Schulreinigung ausgeschrieben wäre, seien eine
       Zumutung und nur zu schaffen, wenn man bestimmte Bereiche dreckig lässt –
       „Wegdrücken“, wie es im Reinigungsgewerbe heißt. Und schlechte Aufträge
       steigerten die Unzufriedenheit. Heistermann rechnet vor: Bei einer
       öffentlichen Ausschreibung zur Schulreinigung müsste man bis zu 500
       Quadratmeter in der Stunde putzen. „Man schaffe aber – wenn man gut ist –
       bei zweistufigem Wischen höchstens die Hälfte.“ Faktisch sei die Arbeit
       also nicht zu schaffen. Kein Wunder, dass viele Schüler nicht mehr aufs
       Schulklo gehen.
       
       Warum es dann trotzdem Angebote für die Ausschreibungen gibt? Heistermann
       sagt: „Das ist nichts Neues in der Gebäudereinigung: Anbieter spielen
       Arbeitnehmer gegeneinander aus und drücken die Kosten.“ Eine Erhöhung des
       Vergabemindestlohns allein löse das Problem dabei noch nicht. Er
       befürchtet, dass sich mit dem steigendem Lohn einfach die Zahl der Stunden
       verringert, die für die selbe Fläche zum Putzen zur Verfügung steht. Es
       bräuchte klare Vorgaben und realistische Zielsetzungen, was wirklich zu
       schaffen ist. Für Leistungsbeschreibung in der freien Wirtschaft gebe es
       sinnvolle Regeltabellen, die aus Heistermanns Sicht dringend auch die
       Vergabestellen nutzen sollten.
       
       Und natürlich sagt Heistermann – wie fast alle Unternehmer, die mit dem
       Vergaberecht konfrontiert sind: der bürokratische Wahnsinn muss weg.
       Verständnis für ökologische Kriterien hat er zwar, „aber dann soll man mir
       doch bitte konkret sagen, welches Bio-Reinigungsmittel ich für welchen
       Preis erwerben soll und das entsprechend in der Ausschreibung einpreisen“.
       Dann würde er sich vielleicht mal wieder auf einen öffentlichen Auftrag
       bewerben. Aber so richtig glaubt Heistermann nicht daran.
       
       22 Jun 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Kitaplatzausbau-in-Berlin-stockt/!5579361
   DIR [2] https://www.bi-medien.de/artikel-25702-ad-tvgg-nrw.bi
   DIR [3] https://www.kn-online.de/Nachrichten/Schleswig-Holstein/Kieler-Landtag-Heftige-Debatte-um-neues-Vergaberecht
   DIR [4] https://www.bi-medien.de/artikel-31421-ad-vergabegesetz-sh-angenommen.bi
   DIR [5] https://www.arbeitgestaltengmbh.de/assets/Uploads/2011-11-13-Dokumentation-FD-Vergabe.pdf
   DIR [6] https://www.ihk-berlin.de/presse/presseinfo/Neuer_Inhalt2019-06-05-nachbesserungen-vergabegesetz/4444742
       
       ## AUTOREN
       
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       Aber was kann man gegen kostenloses Schulessen haben? Ein Wochenkommentar.
       
   DIR Computermäuse: Faires Arbeitstier gesucht
       
       Kaum eine Berliner Behörde bestellt faire Computermäuse – obwohl die
       Verwaltungen durchaus nach sozialen Kriterien einkaufen könnten.
       
   DIR Mit Notfall ins Krankenhaus: Immer mit der Ruhe
       
       Mit „Verdacht auf Appendizitis“ kommt unser Autor in die Rettungsstelle
       einer Kreuzberger Klinik und erlebt allerhand. Eine Chronologie.
       
   DIR Nachhaltigkeit im Finanzsystem: Grüne Geldanlagen wachsen
       
       So viel Geld wie nie wird nachhaltig angelegt – dahinter verbirgt sich mehr
       als Greenwashing. Trotzdem sind Öko-Siegel hilfreich.
       
   DIR Jagen ist das neue Yoga: Dem Essen ins Auge sehen
       
       Biobauer Christian Heymann jagt, was auf den Tisch kommt. Viele Menschen
       zieht es zur Jagd. Unser Autor war mit auf Wildschwein-Pirsch.
       
   DIR Ernährungswende in Berlin: In die Suppe gespuckt
       
       Kurz vor der Präsentation zivilgesellschaftlicher Empfehlungen für die
       Ernährungspolitik in Berlin fordert der Ernährungsrat mehr.
       
   DIR Nachhaltige Mode: Öko-Kleidung für die Massen gesucht
       
       Zahlreiche Labels bringen inzwischen Öko-Mode auf den Markt. Viel teurer
       wird die Produktion dadurch nicht. Doch lohnt das auch in großem Stil?