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       # taz.de -- Proteste in Georgien: Auge um Auge
       
       > Seit ein russischer Abgeordneter sich auf den Sessel des georgischen
       > Parlamentspräsidenten gesetzt hat, gehen in Tiflis Tausende auf die
       > Straße.
       
   IMG Bild: Demonstrant am vergangenen Freitag vor dem Parlament in Tiflis
       
       Tiflis taz | „Ihr könnt uns die Augen herausreißen, aber die Wahrheit sehen
       wir trotzdem“, steht auf dem Plakat einer Teilnehmerin einer Protestaktion
       am Samstag in der georgischen Hauptstadt Tiflis. Salome ist 23 Jahre alt,
       sie lächelt, ihre Augen glänzen vor Entschlossenheit.
       
       Mit ihrem Plakat spielt Salome auf drei Demonstranten an, die am
       vergangenen Freitag durch Gummigeschosse der Polizei ein Auge verloren
       haben. Salome und ihre Freundinnen waren schon vor einem Jahr auf dem
       Rustaweli-Prospekt, der zentralen Straße in Tiflis. Damals hatten sie gegen
       brutale Hausdurchsuchungen in Nachtclubs demonstriert. Doch heute sind sie
       mehr als damals. Auch ältere Mitbürger stehen auf dem Platz vor dem
       Parlament.
       
       Tausende auf der Straße, ein brutales Vorgehen der Polizei, ein riesiger
       Imageverlust für die Machthaber, 240 Verletzte, mehr als 300 Festnahmen,
       der Rücktritt des Parlamentssprechers und eine große Geschlossenheit der
       Protestierenden.
       
       Das ist der Preis, den die Machthaber nun bezahlen müssen dafür, dass der
       russische Abgeordnete Sergei Gawrilow [1][am vergangenen Donnerstag] im
       Sessel des Vorsitzenden des Parlamentes von Georgien Platz genommen hat.
       Wenn es eine Liste von Dingen gäbe, die georgische Jugendliche am
       allerwenigsten sehen wollen, dann wäre sicher dieses Bild unter den Top 5
       gelandet.
       
       ## Gezielte Aktion
       
       Niemand weiß, wie es zu den Fauxpas mit dem Sessel gekommen ist. Bekannt
       ist lediglich, dass sich der russische Abgeordnete an einer Sitzung der
       Interparlamentarischen Versammlung der Orthodoxie in Tiflis beteiligt hat.
       „Ich denke, man hat ihn ganz bewusst in diesen Sessel gesetzt, das war eine
       ganz gezielte Aktion. Es war doch klar, dass wir so etwas nicht ertragen
       können“, meint David Bitkascha, ein Teilnehmer der Demonstrationen. „Wenn
       wir das ignoriert hätten, wären sie bald noch einen Schritt weiter
       gegangen“, fügt Sofia, die mit ihrem fünfjährigen Sohn zur Demonstration
       gekommen ist, hinzu.
       
       Spätestens seit dem Augustkrieg zwischen Russland und Georgien um die
       abtrünnige Region Südossetien 2008 sind die Beziehungen zwischen den beiden
       Staaten extrem belastet. Heute wird außer Südossetien auch die zweite
       abtrünnige Region Abchasien von Moskau kontrolliert.
       
       Sofort nach Bekanntwerden des Vorfalls mit dem Sessel des
       Parlamentspräsidenten begannen die Proteste vor dem Parlament. Einen Dialog
       mit den Demonstranten gab es nicht. Die Machthaber ließen Schlagstöcke,
       Tränengas und Gummikugeln sprechen. Eine derartige Gewalt gegen
       Demonstranten hat es in Georgien seit acht Jahren nicht mehr gegeben.
       
       Vergessen waren die Versprechungen, nie wieder gewaltsam gegen
       Demonstranten vorzugehen. Vergessen war auch die Beteuerung des
       Premierministers, der mal gesagt hatte, Schlagstöcke und Gummikugeln seien
       nicht der Stil der Regierungspartei Georgischer Traum.
       
       ## Schüsse ohne Vorwarnung
       
       Formal hatte die Polizei einen Grund einzuschreiten. Spät am Abend hatte
       ein Sprecher der Oppositionspartei Nationalbewegung, der
       Parlamentsabgeordnete Nika Melia, zum Sturm des Parlamentsgebäudes
       aufgerufen. Daraufhin versuchten einige Demonstranten sofort, über die
       Polizeiabsperrung ins Parlament zu gelangen.
       
       Nach Auffassung vieler internationaler Nichtregierungsorganisationen sei
       die Gewalt der Polizei aber unverhältnismäßig gewesen. Die Polizisten
       hätten ohne Vorwarnung geschossen und das aus einer Entfernung von gerade
       einmal 30 Metern. Beides verstößt gegen das Gesetz.
       
       „Die Behörden haben große Angst vor einem Sieg der Opposition. Diese Angst
       drückt sich in irrationalen Handlungen aus“, sagt Tatija Dolidse, eine
       Teilnehmerin der Aktion. „Nach dem Aufruf, das Parlament zu stürmen, haben
       sie das Gefühl für die Realität verloren und totale Gewalt gegen das eigene
       Volk angewandt. Sie haben jungen Menschen aus der Nähe ins Gesicht
       geschossen“, berichtet sie.
       
       Der Sprecher des Parlaments, Iraklij Kobachidse, ist nach dem Vorfall mit
       dem Parlamentspräsidentensessel zurückgetreten. Doch dies reicht den
       Menschen auf der Straße nicht. Sie fordern auch den Rücktritt von
       Innenminister Georgij Gacharija, die Einführung eines reinen
       Verhältniswahlrechts und die Freilassung aller bei den Demonstrationen
       Festgenommenen.
       
       ## Sieg noch weit entfernt
       
       Tamara, die in Estland lebt und die Aktion über Facebook beobachtet, freut
       sich über die Geeintheit der Demonstranten. „Jetzt ist es wichtig, daran zu
       denken, was uns vereint und nicht, was uns trennt“, sagt sie. In Tiflis
       wissen die Menschen, dass ein Sieg noch weit entfernt ist.
       
       Denn faktisch wird das Land von dem Oligarchen und ehemaligen Premier
       Bidsina Iwanischwili, der auch Vorsitzender der Regierungspartei
       Georgischer Traum ist, kontrolliert. Er hat die Macht im Lande, auch wenn
       er formal keine Verantwortung trägt. Vielen Aktivisten ist klar, dass
       Proteste auf der Straße nicht ausreichen.
       
       Maria Dschobawa und ihre Freundinnen haben sich entschlossen, für den
       Tourismus in Georgien zu werben. Dieser solle, so Dschobawa, auch bei einem
       Abbruch der Flugverbindung nach Russland keine Einbrüche erleiden, sagt
       sie.
       
       Unterdessen nannte der Pressesprecher des russischen Präsidenten, Dmitri
       Peskow, die Aktionen eine „russophobe Provokation“. Am gleichen Tag
       verfügte Russlands Präsident Wladimir Putin für Juli ein Verbot für
       russische Passagierflugzeuge nach Georgien.
       
       ## Moderate Töne
       
       Kurz darauf schlug der Kreml moderatere Töne an. Man könne sich vorstellen,
       das Flugverbot wieder zurückzunehmen, wenn sich die Lage in Georgien
       normalisiere und die Sicherheit russischer Staatsbürger garantiert werden
       könne, ließ Dmitri Peskow verlauten.
       
       Doch nicht alle Georgier stehen hinter den Demonstrationen. Der bekannte,
       in Moskau lebende georgische Regisseur Robert Sturua sieht in den
       Demonstrationen den „Sieg eines bösen Geistes“. „Die Nazis feiern, Georgien
       gibt es nicht mehr“, zitiert ihn das Portal eadaily.com.
       
       Am Sonntagmorgen sind schon wieder Demonstranten auf der Straße. Um
       aufzuräumen. Sie bitten die Polizisten um Verständnis, dass sie wegen der
       Demonstrationen Überstunden machen müssen.
       
       Aus dem Russischen von Bernhard Clasen.
       
       23 Jun 2019
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Sandro Gvindadze
       
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