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       # taz.de -- Debatte Regionale Identität: Der Osten muss sterben, um zu leben
       
       > Wir brauchen eine empathische Debatte über Ostdeutschland. Aber bitte
       > ohne identitätspolitische Schlagseite.
       
   IMG Bild: Den Westen testen? Den Osten einnorden? Oder besser: Ab in die Südsee
       
       Bin ich ein Ossi? Eigentlich nicht. Schließlich wurde ich 1991 geboren,
       mitten hinein in die Nachwendezeit. Ich hatte das Glück, in einer Familie
       aufzuwachsen, die das Ende der DDR gut überstanden hat: kein Frust, keine
       Altlasten, nur der wiederkehrende Appell meiner Eltern, mir die Welt
       anzuschauen – „wir konnten das ja nicht in deinem Alter“. [1][Meinen
       sächsischen Dialekt] hört man, nach fast zehn Jahren in Berlin, kaum noch.
       
       Bin ich also kein Ossi? Irgendwie ja doch. Noch vor ein paar Jahren nutzte
       ich Worte wie „Kaufhalle“ und „Nicki“. Als ich kürzlich „Gundermann“ im
       Kino schaute, ging mir, trotz der politischen Brisanz des Films,
       schlichtweg das Herz auf: weil mich das Mobiliar im Film an Omas Stube
       erinnerte.
       
       Am ostdeutschesten fühle ich mich aber, wenn mal wieder Mist passiert in
       der alten Heimat. Dann werde ich sehr wütend auf den Osten. Auf die
       Rechtsrockfans in Ostritz. Auf die Polizei, weil sie dort Männern mit
       tätowierten Hakenkreuzen die Armbinde richtete, statt eine Anzeige
       aufzunehmen. Auf den geifernden Hass auf den Straßen.
       
       Schließlich werde ich wütend auf mich selbst, weil ich in meinem Furor der
       Lesart auf den Leim gehen, die Bewohner des Ostens in Sippenhaft zu nehmen.
       Und dann kreist der Kopf: um die Frage, was man nun anfängt mit dieser Wut,
       die in alle Richtungen zielt.
       
       Zur Europawahl wurde die AfD in Brandenburg mit 19,9 Prozent stärkste
       Kraft, [2][in Sachsen sogar mit 25,3 Prozent]. In Görlitz konnte kürzlich
       knapp die Wahl eines AfD-Politikers zum Bürgermeister [3][verhindert
       werden]. Seit Monaten treibt die Politiker demokratischer Parteien in
       Sachsen, Brandenburg und Thüringen die Angst vor den Landtagswahlen an.
       
       ## Im Osten stirbt man ärmer als im Westen
       
       Man muss nach allen Tabubrüchen der letzten Jahre nicht mehr viele Worte
       darüber verlieren, warum die Erzählung von der „Protestpartei“ eine üble
       Verharmlosung ist. Kann schon sein, dass sich abgehängt fühlt, wer die AfD
       wählt, nicht ernst genommen und frustriert, in Stänkerlaune gegen ein
       angeblich feindlich gesinntes Establishment.
       
       Vor allem aber will man (oder nimmt zumindest billigend in Kauf), dass
       harte Nazis im Parlament sitzen. Weder Abstiegsängste noch
       Post-Wende-Traumata taugen da als Rechtfertigung. Ostdeutsch, arm oder
       ängstlich zu sein, ist keine Rechtfertigung für Rassismus. Darüber mag ich
       nicht diskutieren.
       
       Wenn aber unter Bekannten und in den Kommentarspalten das Witzchen die
       Runde macht, [4][wir bräuchten den „Säxit“], dann mag ich den Osten
       verteidigen. Weil diese Verachtung ein Schlag ins Gesicht für alle ist, die
       sich dort für Kulturprojekte, Antifa-Strukturen oder ein freigeistiges
       Miteinander einsetzen. Weil Leute von Jammer-Ossis und Opfermythen reden,
       wo doch sattsam bekannt ist, dass viel zu wenige Ostdeutsche in großen
       Unternehmen, Redaktionen und auf hochrangigen Politikerposten sitzen. Dass
       man im Osten ärmer stirbt als im Westen.
       
       ## Das Ressentiment dem Osten gegenüber
       
       Sicher, Klischees gibt es über beinahe alle Regionen Deutschlands: hier
       die halsstarrigen Bayern, dort die Spießbürger aus dem Pietkong. Aber wer
       gegen den Osten ätzt, tritt nach unten – anders als beim Lästern über
       Schwaben. Das Ressentiment dem Osten gegenüber ist ein Clusterfuck, ein
       Zusammenspiel von Vorurteilen gegen DDR-Biografien, Provinzialität, Armut,
       Bildungsferne. In der Verachtung für Ostdeutsche bricht sich auch immer
       eine Form von Klassismus Bahn, die salonfähig wird, weil man schließlich
       über die „Richtigen“ lacht – über die dummen Ostnazis nämlich.
       
       Jede Wette: Wer sich über den LKA-Mitarbeiter Maik G. beömmelt (Genau, der
       mit „Sie begehen hier eine Straftat!“), der lacht nicht nur, weil er seiner
       Bestürzung ob der Zustände in sächsischen Behörden nicht anders Ausdruck
       verleihen kann. Sondern auch, weil da ein dicker Depp mit blödem Dialekt
       und noch blöderem Discounter-Hut ziemlichen Stuss erzählt.
       
       Lange wurde pauschalisierend über den Osten geredet – aber nicht mit seinen
       Bewohnern. In der jüngsten Zeit ist nun eine lebendige Debatte über
       Ost-Identität erwacht. Für großes Aufsehen sorgte kürzlich eine Studie der
       Migrationsforscherin Naika Foroutan. Die kam, sehr knapp gesagt, zu dem
       Ergebnis, dass Ostdeutsche und Migranten in Deutschland mit ähnlichen
       Vorurteilen von außen zu kämpfen haben. In eine ähnliche Kerbe schlug der
       Kulturwissenschaftler Paul Kaiser, der kürzlich eine Tagung mit dem Titel
       „Kolonie Ost? Aspekte von ‚Kolonialisierung‘ in Ostdeutschland seit 1990“
       veranstaltete. Der Gedanke: Was Ostdeutschland und ehemalige Kolonien eint,
       ist das Gefühl von Fremdbestimmung.
       
       ## #WirimOsten
       
       Für beide Ansätze gab es Kritik – weil es sich frivol anfühlt, die Probleme
       von Weißen mit deutschem Pass und Migranten zusammenzudenken. Aber es gab
       auch Zuspruch und Begeisterung. Fair enough: Das Gefühl vieler
       Ostdeutscher, nicht dazuzugehören, hat eine Mehrheit lange belächelt. Nun
       wird es in einer Debatte verhandelt, die spannend genug für die Feuilletons
       ist. Ein Gutes bringen diese Ansätze auf jeden Fall mit sich, nämlich die
       Anerkennung von systemischen Unterschieden und damit von struktureller
       Ungleichheit.
       
       Das birgt allerdings eine Gefahr: in identitätspolitisches Lagerdenken zu
       verfallen. Per se muss Identitätspolitik nichts Verkehrtes sein. Wenn sich
       Benachteiligte zu einem gemeinsamen „Wir“ zusammenschließen, kann sie das
       bestärken und beflügeln. Der Claim schwarzer Aktivisten, „black and proud“
       zu sein, wertet Weiße nicht ab. Sich selbst zu feiern, durchaus stolz vom
       Mainstream abzugrenzen, ist für Frauen und People of Colour, Homosexuelle,
       Menschen mit Behinderung und andere Gruppen eine Strategie, um nicht
       durchzudrehen in einer ihnen feindlich gesinnten Welt.
       
       Ich habe viele Unterhaltungen geführt, in denen man mich fragte, warum
       Ostdeutsche es diesen Gruppen nicht gleichtun sollten. Wenn wir anerkennen,
       dass Ostdeutsche strukturell benachteiligt sind – warum finde ich es
       gruselig, von einem „Stolz“ auf den Osten zu reden, während „gay pride“
       okay ist? Was gefällt mir nicht daran, dass am Anfang des gerade virulenten
       Hashtags [5][#WirimOsten], unter dem im Netz tolle, vielfältige Geschichten
       gesammelt werden, ein dickes, fettes „Wir“ steht?
       
       Weil es, mit Verlaub, absolut immer eine Scheißidee ist, sich
       identitätsstiftend auf seine Herkunft zu berufen. Man muss nicht trotzig
       stolz darauf sein, aus dem Osten zu kommen, weil der Rest der Welt einen
       (angeblich) mit Verachtung straft. Das ist zwar, aus einem Reflex der
       Kränkung heraus, durchaus nachvollziehbar, aber nicht produktiv. Ein
       starkes – und damit auch ausschließendes – ostdeutsches „Wir“ zu
       etablieren, sollte allen Unbehagen bereiten, die (Lokal-)Patriotismus
       ablehnen.
       
       ## Scheiße, schon wieder Ostrock
       
       Dazu kommt der Faktor Zeit: Ich frage mich, wie praktikabel eine
       Ost-Identitätspolitik wäre, gerade in Hinblick auf kommende Generationen.
       Für viele junge Ostdeutsche meiner Generation ist die DDR schon jetzt nicht
       mehr als ein Gespenst, das noch ab und an durch die Familien spukt.
       Manchmal spukt es auch durch mein Leben. Zum Beispiel, wenn meine Freunde
       aus Magdeburg oder Leipzig auf WG-Partys den Song „Kling Klang“ der
       Brandenburger Band Keimzeit hören wollen, weil man das eben von
       Familienfeiern kennt, und der Rest die Augen verdreht: Scheiße, schon
       wieder Ostrock. Dann ist es wieder da, das Gefühl, irgendwie doch ein Ossi
       zu sein.
       
       Aber ich wage die Prognose: Wer heute 16 ist und aus dem Osten kommt, hat
       noch nie zu Keimzeit getanzt. Viele Unterschiede zwischen Ost und West
       wurden in meiner Generation und denen, die ihr folgen, erfolgreich
       eingeebnet. Das ist gut so – und es wäre fahrlässig, sie nun wieder bewusst
       zu schärfen, gar zu romantisieren.
       
       Ostdeutsche zu exotisieren, indem man sie mit Migranten, ihre Heimat mit
       Kolonien in Verbindung bringt, ist der Debatte kaum zuträglich. Eine
       weitere identitätspolitische Konfliktlinie löst keine Probleme. Viele
       Ostdeutsche haben 30 Jahre gekämpft, um im kapitalistischen
       Wirtschaftssystem anzukommen, manche kämpfen noch immer. Ebenso viele
       mussten und müssten die Demokratie lesen lernen. Lernen, ihre Vorteile zu
       nutzen, mitzubestimmen. Was bringt es, all jene auf ein von sich selbst
       gerührtes „Wir“ einzuschwören? Eher müsste man ihnen zurufen: Der Osten ist
       tot, der Ossi ist tot! Am Leben sind fünf Bundesländer mit 16 Millionen
       Menschen!
       
       ## Vorbilder aus Gera, Görlitz oder Geisa
       
       Ostdeutschsein ist nichts Produktives, genauso wenig wie Westdeutschsein.
       Es ist eine Fremdzuschreibung, die mit Vorurteilen und Abwertung belegt
       ist. Und die, resultierend aus Schmerz und Trotz, für viele zur
       Selbstzuschreibung wurde. Wir sollten sie beerdigen, nicht feiern. Damit
       das gelingt, muss es 30 Jahre nach dem Mauerfall auch mal genug sein mit
       der Legende vom Jammer-Ossi und mit Säxit-Gelüsten. Solche Witze sind nicht
       lustig, nicht schlau und nicht links, sondern unsolidarisch und denkfaul.
       
       Allen, denen es noch immer nicht zu doof ist, die Linkspartei als
       SED-Nachfolger zu diffamieren, sollte man deutlich sagen: Kommt an in der
       gesamtdeutschen Bundesrepublik. Aber auch an die Ost-Politiker und
       -Kommentatoren kann man nur appellieren, nicht in den Duktus vergangener
       Zeiten zu fallen. Es ist gefährlich, wenn der von rechts außen getriebene
       sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer in einem Gastbeitrag für
       die Zeit von „Volksgesetzgebung“ spricht und damit an SED-Sprache andockt.
       Es vertieft Gräben, statt sie zu schließen.
       
       Denn eine Mehrheit der Ostdeutschen wählt eben nicht AfD, und sie gilt es
       zu stärken. Was es braucht, sind Vorbilder: aus Gera, Görlitz oder Geisa.
       Ob dafür Quoten nötig sind? Wer weiß. Dass wir darüber reden, ist wichtig.
       Denn wir sollten unbedingt über „den Osten“ nachdenken – um ihn
       schnellstmöglich ruhigen Gewissens beerdigen zu können. Und mit ihm
       vielleicht die Wut vieler Menschen.
       
       4 Jul 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.mdr.de/sachsen/mundart/saechsische-dialekte100.html
   DIR [2] /Programm-fuer-Regierungsbeteiligung/!5606177
   DIR [3] /Kein-AfD-Buergermeister-in-Goerlitz/!5603184
   DIR [4] https://www.zeit.de/2015/34/sachsen-austritt-bundesrepublik-rechtsextremismus-pegida
   DIR [5] https://twitter.com/search?q=%23WirimOsten&src=typed_query
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Julia Lorenz
       
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