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       # taz.de -- Bewohnbares Kunstprojekt: Der Parasit vom Dach
       
       > Mit einer illegal auf einem Dach errichteten Hütte wollen zwei Künstler
       > „die Häuser symbolisch zurückholen“. Wer will, kann dort mal probewohnen
       
   IMG Bild: Über den Dächern Berlins: der Parasit auf seinem Wirt
       
       Irgendwo in Berlin in einem typischen Berliner Wohnhaus, das bis jetzt von
       der Gentrifizierung verschont blieb, steigt Jakob Wirth durch das alte
       Treppenhaus nach oben. Auf dem Weg knarzen die Stufen unter seinen Tritten.
       Mit einem kleinen Trick löst er das Türschloss zum Dachboden. Stickig und
       dunkel ist es hier; in einer Ecke stehen alte Möbel und leere Flaschen. Die
       Luft ist dick und ein etwas modriger Geruch steigt einem in die Nase. Wirth
       will noch weiter hinauf. Eine wackelige Holzleiter bringt ihn zur Dachluke.
       
       Oben angekommen, zeigt sich, was der Künstler und Soziologiestudent Jacob
       Wirth und sein Kollege Alexander Zakharov (der seinen richtigen Namen nicht
       veröffentlichen will) in zwei bis drei Wochen Arbeit zusammenwerkelten und
       schließlich auf das Dach des Wohnhauses verfrachteten. Von der Straße aus
       kaum zu sehen, blitzt es einem zwischen Schornsteinen entgegen: ein
       gänzlich verspiegeltes kleines Häuschen zwischen den Dachfirsten.
       
       Schon seit gut drei Wochen blickt das [1][„Penthaus à la Parasit“] über die
       Stadt. „Ich hatte gedacht, dass wir nach drei, vier Tagen ein anderes Dach
       suchen müssten“, erklärt Wirth, der es sich im Schatten der fünfeckigen
       Hütte bequem gemacht hat. Denn für das teils geförderte Kunstprojekt haben
       die beiden weder eine Genehmigung noch eine Erlaubnis. Aufgrund der
       gesetzlich prekären Lage will Wirth allerdings keine weiteren Informationen
       zu der Herkunft der Fördermittel geben. Das Häuschen ist nicht nur eine von
       Wirths „künstlerischen Interventionen, die zwischen Aktivismus und Kunst
       liegen“, wie er selbst es beschreibt, sondern in gewissem Umfang bewohnbar.
       Jetzt, nach drei Wochen, sei die Zeit reif, um anderen das Wohnen darin zu
       ermöglichen, so Wirth.
       
       Ein Blick in das Innere des Holzkonstruktes offenbart ein Bett, das sich
       genau zwischen die äußersten Ecken des Innenraums und direkt unter das
       einzige Fenster schmiegt. Links stehen ein Tisch und ein altertümlich
       anmutender Hocker, rechts findet sich ein kleines Regal. Daneben eine
       Flasche mit Propangas, die die mobilen Herdplatten versorgt. Ansonsten
       findet sich in den Ablagen alles, was man als Grundversorgung braucht:
       Topf, Pfanne, Kaffeekanne, Eier, Nudeln, frisches Obst und unter anderem
       ein Eimer Sägespäne. Die Holzreste sind allerdings nicht zum Essen gedacht,
       sondern befüllen die Toilette, die außerhalb des Häuschen neben den
       Holzplanken, die eine Art Terrasse bilden, steht.
       
       ## „Ein Rückzugsraum, ein Freiraum“
       
       Auch wenn man es hier, trotz einer Fläche von gerade einmal vier
       Quadratmetern, durchaus länger aushalten könnte, macht Wirth direkt klar,
       dass er und sein Kollege selbst diese Idee „nicht als eine strukturelle
       Lösung für die Wohnraumprobleme sehen“. Es ginge viel mehr um
       Sichtbarmachung der Grenzen und darum, sich in einer Zeit der
       Gentrifizierung und Verdrängung „die Häuser symbolisch zurückzuholen“.
       
       Für Wirth, der nach eigener Aussage die letzten acht Jahre nie in normalen
       kommerziellen Wohnverhältnissen gelebt hat, ist es so etwas wie „ein
       Rückzugraum, ein Freiraum“ oder auch ein „Ruhepol“. Diese Freiheit oder
       „Entrückung“ wie er es gerne nennt, ist auf dem Dach beinahe spürbar. In
       jede Richtung blickt man über die roten Dächer der Stadt, die in
       unregelmäßigen Abständen durch die leuchtend grünen Kronen der
       unterschiedlichsten Bäume unterbrochen werden. Menschen sieht man keine,
       nur hören kann man ihre Rufe, Unterhaltungen und ihr Gelächter aus den
       Schluchten. Einzige Begleiter an diesem einsamen Ort sind die Tauben, die
       sich hin und wieder auf den Schornsteinen oder Antennen ringsherum
       niederlassen.
       
       Wie deplatziert dieses Fünfeck zwischen den Schornsteinen wirkt, wird
       deutlich, wenn man den Blick zwei Dächer weiter schweifen lässt. Ein
       Wintergarten und eine grüner Balkon offenbaren ein Penthouse im klassischen
       Sinn: eine wohlgeplante Luxuswohnung mit bester Aussicht, Platz und
       Sonnenlicht in einem völlig zugebauten Stadtgebiet. Dem zum Trotz fügt sich
       das Dachappartement tadellos in die Szenerie des Großstadtdschungels. Das
       silberne Haus hingegen ist ein Makel im rot-grünen Schachbrett der Dächer
       und Bäume. Beinahe wie ein Leberfleck – oder eben ein Parasit, der sich die
       sonst unbenutzte Fläche zu eigen macht.
       
       Der Vorteil des parasitären Lebens sei genau wie bei dem Häuschen die
       „extrem flexible Struktur“, wie Wirth es beschreibt. Eigentlich befinde man
       sich hier schon im Bereich des Hausfriedensbruchs, aber es sei „wahnsinnig
       schwer kontrollierbar“, da sich der Parasit einfach einen neuen Wirt suchen
       könne. Am schönsten wäre es für ihn, wenn dieses Projekt kein Einzelfall
       bliebe: „Wenn plötzlich auf allen Häuser, die gekauft werden, am nächsten
       Tag überall solche Häuschen stehen würden.“ Solange das [2][„Penthaus à la
       Parasit“] noch an diesem Ort steht, sei ein weiterer Schritt geplant, bei
       dem „noch mal versucht wird, es ein bisschen auf die Spitze zu treiben“, so
       Wirth. Wie genau diese Aktion aussehen sollte, wollte er zu diesem
       Zeitpunkt allerdings noch im Dunkeln lassen.
       
       ## Eine nächtliche Odyssee
       
       Ablenkung braucht man als Bewohner des Parasiten kaum. Wenn sich die Nacht
       über Berlin legt, zeigt sich der wunderbare Ausblick vom Dach des
       Wohnhauses auf die im violetten Licht des Abendrotes verschwindenden
       Spitzen der umliegenden Gebäude. Während das Licht der Sonne langsam hinter
       dem Horizont verschwindet, fährt das Leben in die kleineren Lichter
       ringsherum in den Schluchten der Straßen. Der einsame Bewohner des
       parasitären Penthouses ist wie der stille Beobachter oder der Erzähler
       vieler kleiner Geschichten, die sich in der Stadt unter ihm auftun.
       
       Jedes erleuchtete Fenster ist ein Puppentheater oder ein Schattenspiel. Von
       der Straßenseite aus kriecht der Geruch von frisch Gebackenem die Wand des
       Hauses empor und mischt sich mit dem strengeren Geruch gebratener
       Fischstäbchen aus dem Innenhof. Den Abend lang präsentieren sich immer neue
       kleine Geschichten, während andere zu Ende gehen, bis kurz nach Mitternacht
       auch die letzten Lichter ausgehen.
       
       Am Ende der nächtlichen Odyssee taucht Wirth wieder auf. Bepackt mit einem
       üppigen Frühstück klettert er durch die Dachluke. Gestärkt und ausgeruht
       geht es dann den Weg wieder hinab. Die wackelige Leiter hinunter in den
       nicht mehr so stickigen Dachboden, durch die alte Tür mit austricksbarem
       Schloss zum knarzenden Treppenhaus. Ein letzter Blick von der Straße auf
       die glänzende Spitze des [3][„Penthaus à la Parasit“], von der niemand
       sagen kann, wie lange sie hier noch zu sehen sein wird.
       
       27 Jun 2019
       
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       ## AUTOREN
       
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