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       # taz.de -- Politischer Mordfall Lübcke: Aus dem Blick verloren
       
       > Im Mordfall Lübcke nehmen Ermittler zwei mutmaßliche Waffenlieferanten
       > fest. Hätten die Behörden Stephan Ernst und sein Umfeld beobachten
       > müssen?
       
   IMG Bild: Polizei bei der Beisetzung Walter Lübckes
       
       Berlin taz | Es war am 1. Mai 2009 in Dortmund, als rund 400 Neonazis
       plötzlich auf eine Kundgebung des DGB losstürmten. Mit Holzstangen und
       Steinen griffen die Rechtsextremen an, verletzten Gewerkschafter und
       Polizisten. Der Angriff sorgte für Entsetzen. Damals mit dabei waren zwei
       Neonazis aus Kassel: [1][Stephan Ernst] und Markus H.
       
       Nun stehen beide Neonazis wieder im Visier. Denn Stephan Ernst hat am
       Dienstag gestanden, Anfang Juni den Kasseler Regierungspräsidenten Walter
       Lübcke vor dessen Haus in Wolfhagen-Istha bei Kassel erschossen zu haben.
       Und in der Nacht zum Donnerstag wurde nun auch Markus H. verhaftet,
       zusammen mit einem Mann aus Nordrhein-Westfalen, Elmar J.: Beide sollen
       2016 an der Beschaffung der späteren Tatwaffe – einer Faustfeuerwaffe,
       Kaliber 0.38 – beteiligt gewesen sein.
       
       Zugleich hob die Polizei ein Waffendepot von Stephan Ernst aus auf dem
       Grundstück seines Arbeitgebers, eines Kasseler Herstellers für
       Mobilitätstechnik. Fünf Waffen sollen dort gefunden worden sein, laut
       Süddeutscher Zeitung auch eine Uzi und eine Pumpgun. Und die Tatwaffe.
       
       Es ist ein weiterer Durchbruch im Mordfall Lübcke. Denn seit Beginn waren
       die Ermittler fieberhaft auf der Suche nach der Tatwaffe. Definitiv ist
       nun, dass der Mord keine Spontantat war, sondern von langer Hand
       vorbereitet. Und auch die Einzeltäter-These wankt immer stärker.
       
       Vor allem aber geraten die Sicherheitsbehörden noch mehr unter
       Erklärungsdruck: Wie konnten sie Stephan Ernst, einen langjährig
       gewalttätigen Neonazi, aus dem Blick verlieren – wenn dieser gleichzeitig
       Waffen hortete? Und: Wie kann das auch für Markus H. gelten, einen offenbar
       bekannten Kasseler Neonazi, der ebenso mit Waffen zu tun hatte?
       
       ## „Ein bisschen rechts“
       
       Erst am Dienstag, nach Tagen des Schweigens, hatte Ernst den Mord an Lübcke
       gestanden. Über mehrere Stunden dauerte die Polizeibefragung. Und es war
       Ernst selbst, der die Ermittler auf die Spur von Markus H. und Elmar J.
       führte. Er habe beide als Kontakte für die Tatwaffe benannt, sagte ein
       Sprecher der Bundesanwaltschaft. Demnach soll Markus H. den Kontakt zu
       Elmar J., einem 64-Jährigen aus dem kleinen Borgentreich-Natzungen,
       vermittelt haben, der 2016 letztlich die Tatwaffe an Ernst verkaufte.
       
       Noch in der Nacht zu Donnerstag ließen die Ermittler deshalb die Wohnungen
       der beiden Männer durchsuchen, beide wurden vorläufig festgenommen. Die
       Bundesanwaltschaft sieht einen „dringenden Tatverdacht der Beihilfe zum
       Mord“.
       
       Und es sind offenbar politisch Einschlägige, mit denen es die Polizei zu
       tun hat. Der mutmaßliche Waffenverkäufer Elmar J. sympathisiert im Internet
       mit der NPD, Nachbarn beschreiben ihn laut Lokalmedien als „ein bisschen
       rechts“. Und auch der beschuldigte Kasseler Markus H., 43 Jahre, ist laut
       dem hessischen Innenexperten der Linkspartei, Hermann Schaus, „kein
       Unbekannter“.
       
       Schon Anfang der neunziger Jahre sei H. in der Neonazi-Partei FAP gewesen,
       später in der Kameradschaft „Freier Widerstand Kassel“. Auch sei er einem
       Vermerk des hessischen Landesverfassungsschutzes als besonders gefährlich
       gelistet gewesen.
       
       ## Zeuge im NSU-Komplex
       
       Und: Markus H. war nach taz-Informationen auch Zeuge im NSU-Komplex – zum
       Mord der Terrorgruppe an dem Kasseler Internetcafébetreiber Halit Yozgat.
       Im Juni 2006, zwei Monate nach der Tat, wurde er von der Polizei befragt,
       weil er auffällig häufig eine BKA-Fahndungsseite besuchte. H. erklärte dies
       damit, dass er über einen Bekannten Yozgat einmal getroffen habe und sich
       daher für den Fall interessierte. Die Spur wurde nicht weiter verfolgt.
       Markus H. aber blieb offenbar in der rechtsextremen Szene. Und soll noch
       2009 bei der Attacke in Dortmund gewesen sein, zusammen mit dem
       mutmaßlichen Lübcke-Mörder Ernst. Und sieben Jahre später soll er ihm die
       jetzige Tatwaffe vermittelt haben.
       
       Dass Markus H. und Elmar J. aber direkt etwas mit dem Mord an Walter Lübcke
       zu tun haben, schließt die Bundesanwaltschaft bisher aus. Es gebe keine
       Anhaltspunkte, dass diese von konkreten Anschlagsplänen wussten, gar an der
       Ausführung beteiligt waren oder sich als Terrorgruppe zusammengeschlossen
       hätten, sagte ein Sprecher. Aber: Beide Männer hätten zum Zeitpunkt des
       Waffendeals von Ernsts rechtsextremer Gesinnung gewusst – und somit
       „billigend in Kauf genommen“, dass dieser die Waffe für ein politisches
       Tötungsdelikt einsetze.
       
       Den Ermittlern erzählte Ernst zudem, dass er selbst Waffen an zwei Personen
       verkauft habe. Auch gegen diese wird nun ermittelt, von der
       Staatsanwaltschaft Kassel. Einen Zusammenhang zum Lübcke-Mord sehen die
       Ermittler nicht. Dennoch prüfen man „intensiv“, in welcher Beziehung die
       Personen stünden, bekräftigte der Sprecher der Bundesanwaltschaft.
       
       Tatsächlich drängt die Frage. Umso mehr, da die Sicherheitsbehörden
       behaupten, Stephan Ernst sei seit 2009, seit dem Angriff in Dortmund, nicht
       mehr auffällig gewesen. Seit 1989 hatte dieser zuvor schwere Straftaten
       verübt. Im Keller eines von Deutschtürken bewohnten Hauses legte er Feuer,
       vor einer Asylunterkunft versuchte er eine Rohrbombe zu zünden, mit einem
       Messer stach Ernst einen Migranten nieder. Insgesamt 37 Straftaten häufte
       er an, bewegte sich in der NPD und im Kameradschaftsmilieu. Und dann
       stellte er plötzlich alle Szeneaktivitäten ein?
       
       ## „Zu viele illegale Waffen im Umlauf“
       
       Die jetzigen Festnahmen nähren Zweifel, dass dies so war. Zumindest zu
       Markus H. hielt der Kontakt. Und seine Waffensammlung soll Ernst schon 2014
       begonnen haben – noch vor der Aussage von Lübcke, dass Flüchtlingsfeinde ja
       das Land verlassen könnten, die Rechtsextreme aufbrachte und laut
       Geständnis auch Ausgangspunkt für die Mordtat war.
       
       Das hessische LKA und das Landesamt für Verfassungsschutz blieben am
       Donnerstag indes schweigsam. Zu Fragen, wie sie Ernst und den Waffenbesitz
       hessischer Neonazis zuletzt im Blick behielten, verwiesen sie auf die
       laufenden Ermittlungen – und sagte nichts.
       
       Grundsätzlich sind die Hürden aber nicht allzu hoch, um an illegale Waffen
       zu gelangen. Vor allem aus dem Westbalkan gelangen diese nach Deutschland.
       Vielfach werden auch Schreckschuss- oder Dekowaffen von Kriminellen
       umgebaut und „scharf“ weiterverkauft. In Hessen gilt etwa das Frankfurter
       Bahnhofsviertel als Umschlagplatz. Auch über das Darknet sind Schusswaffen
       zu bekommen – hier versorgte sich etwa der Täter des rechtsextreme
       Attentats am Münchner Olympia Einkaufszentrum 2016.
       
       „Es sind leider viel zu viele illegale Waffen im Umlauf“, beklagt Reiner
       Weidemann, Chef des Kasseler Schützenvereins, in dem auch Stephan Ernst als
       Bogenschütze Mitglied war. „Das ist ein Problem.“ In seinem Verein dagegen
       gebe es nur registrierte Waffe, versichert Weidemann. Und Ernst habe dazu
       keinen Zugang gehabt.
       
       ## Combat 18
       
       Wie es jetzt aussieht, brauchte der 45-Jährige dies auch gar nicht: Er
       konnte offenbar einfach auf seine Neonazi-Kontakte zurückgreifen.
       
       Im Visier steht deshalb weiter auch das militante [2][Neonazi-Netzwerk
       Combat 18]. Auch dort wird über einen bewaffneten Kampf fabuliert, die
       Gruppe ließ sich zuletzt bei einem Schießtraining in Tschechien erwischen.
       Und Stephan Ernst ist auf früheren Fotos mit dem Kasseler Stanley R. zu
       sehen, der heute als Deutschlandchef von Combat 18 gilt.
       
       Die Gruppe veröffentlichte nun ein anderthalbminütiges Video – eine
       Premiere hierzulande. Ein Vermummter, offenbar der Dortmunder Robin S.,
       verliest dort mit verzerrter Stimme auf einer grünen Wiese eine
       „Klarstellung von Combat 18“. Meldungen, wonach Stephan Ernst im März auf
       einem Treffen der Gruppe in Sachsen gewesen sei, seien unwahr. Es werde
       derzeit „linke Propaganda“ gegen Combat 18 betrieben, namentlich genannt
       wird ein ARD-Journalist – dieser war zuletzt bereits von der NPD-Größe
       Thorsten Heise bedroht worden, dem auch eine Nähe zu Combat 18 nachgesagt
       wird.
       
       Bundesinnenminister Seehofer (CSU) hatte zuletzt bereits ein Verbot von
       Combat 18 ins Spiel gebracht. Am Donnerstag bekräftigte er [3][bei der
       Vorstellung des Verfassungsschutzberichts]:Wo immer möglich, prüfe man
       derzeit Verbote in der rechtsextremen Szene. Es gehe jetzt darum, „dem
       Rechtsstaat mehr Biss zu verleihen“.
       
       27 Jun 2019
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Konrad Litschko
       
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