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       # taz.de -- 1. Juli 1989: 1. Loveparade: Relativ überwältigend
       
       > Vor der Loveparade haben doch immer alle nur von früher geträumt, von
       > dem, was sie verpasst haben. Mit der Parade kam die Gegenwart.
       
   IMG Bild: Alle so normal hier: die 1. Loveparade am 1. Juli 1989 auf dem Kurfürstendamm
       
       Als am 1. Juli 1989 die erste Loveparade unter dem Motto „Friede, Freude,
       Eierkuchen“ mit 137 Leuten über den Kurfürstendamm zog, war ich nicht dabei
       gewesen, und als ich davon hörte, war es nicht so wichtig. In dem Sommer
       war ich in Ungarn gewesen. Dann hatten wir uns getrennt, das Unglück war
       groß, zum Glück war zu Hause auch viel los. Ich arbeitete als studentische
       Hilfskraft in der Bibliothek der Komperatisten, war als Studentenvertreter
       im Streik aktiv, kam mit meiner Abschlussarbeit nicht zu Rande,
       gleichzeitig veröffentlichte ich schon in der taz und war somit auf dem Weg
       ins richtige Leben.
       
       Ich wohnte nicht weit vom Potsdamer Platz, war eher genervt von den
       „Mauerspechten“, den Vorbildern aller Baumarktreklamen. In der ehemaligen
       Hauptstadt der DDR tobte der Häuserkampf. Hedonismus war ein Schimpf- und
       Tanzen ein Fremdwort. Wie die Loveparade jedes Jahr größer wurde,
       registrierte ich eher schlecht gelaunt. Das schien mir alles Triumphgemüse
       zu sein.
       
       Dass Techno und diese Art von Umzügen keine vor allem deutsche Geschichte,
       sondern Teil der internationalen Popgeschichte, inspiriert von der
       englischen Acid-House-Bewegung, die ein Jahr zuvor ihren „Summer of Love“
       erlebt hatte und ihrerseits irgendwie wieder auf den amerikanischen Summer
       of Love, 1967, geantwortet hatte, war mir damals nicht so klar, vielleicht
       auch, weil ich in meiner Teenagerzeit so traurig gewesen war, zu spät für
       Woodstock, 1968, den Underground der 70er Jahre usw. geboren zu sein. Bis
       1989 hatten eigentlich „alle“ nur immer zurückgeblickt auf die Sachen, die
       man verpasst hatte, auf eine Zeit, in der ein anderes Leben möglich gewesen
       zu sein schien. Nun schien man allmählich in der Gegenwart angekommen zu
       sein.
       
       Das Gefühl hatte ich jedenfalls, als ich die ersten Male auf der Loveparade
       war. Es war schon relativ überwältigend und anders als das Werbebild, das
       die Medien sendeten. Die Loveparade beeindruckte nicht, weil die Teilnehmer
       alle so sexy und gutaussehend gewesen wären, sondern weil sie so normal
       waren. Sie war der beste Ort, um als Fremder mit Unbekannten zu tanzen; es
       war auch die erste Großveranstaltung, die gegenwärtig war – die
       Hippie-Open-Airs der 70er Jahre hatten sich auf Woodstock bezogen, auf den
       linken Demos der 80er lief gewöhnlich immer nur Ton, Steine, Scherben.
       
       ## Politische Demonstration und Riesenparty
       
       Der offene Drogengebrauch hatte etwas Anarchistisches. Ecstasy eignete sich
       besser zum Tanzen als das LSD der 70er Jahre. Das Fertige war wie bei allen
       Rauschmitteln immer präsent; es hatte aber etwas Befreiendes, offen auf der
       Straße zu kiffen; mit dem Fahrrad angedichtet zwischen städtischen
       Open-Airs hin und her zu pendeln; am nächsten Tag aus irgendeinem Club zu
       taumeln. Ein paar Jahre fühlte ich mich so, als wären meine Teenagerträume
       von Woodstock wahr geworden.
       
       Die Parade selber war dabei nicht das Wichtigste, sondern nur Teil eines
       großen Wochenendes, das offiziell am Freitag begann und irgendwann am
       Montag endete. In der Zeit zwischen den Großveranstaltungen waren die Clubs
       – das E-Werk, der Tresor usw. – oft nicht wirklich ausgelastet.
       
       Anfangs war es eine kleine popmusikalische Avantgarde, die das öffentlich
       Techno-Tanzen für sich entdeckt hatte. Dann wurden es immer mehr. Und
       spätestens ab Mitte der 90er, als die Parade in den Tiergarten gezogen war,
       betonten die Raver der frühen Stunde, dass Techno am Ende und alles nur
       noch Ausverkauf war.
       
       Die Loveparade in Berlin war beides: politische Demonstration und
       Riesenparty. Dass so viele Menschen friedlich miteinander feierten, galt
       als politisch, der zivilisatorische Fortschritt von Techno hatte unter
       anderem darin bestanden, dass der DJ nicht als Star auf der Bühne stand,
       dass man nicht Richtung Bühne getanzt hatte, sondern miteinander, dass es
       keine Slogans gab, unter denen man sich versammelte. Die comichaften Mottos
       ironisierten die wohlfeilen Parolen politischer Demonstrationen.
       
       Dass der linke Loveparade-Erfinder Dr. Motte ab 1996 kurze hippieeske Reden
       hielt, die von vielen Besuchern eher belächelt wurden, geschah zunächst
       nicht freiwillig – ohne Rede hätte die Parade ihren Status als politische
       Demonstration verloren. Einerseits ging die Loveparade dann Richtung
       Karneval, Volksfest, die Musik von den Wagen wurde immer
       kirmestechnomäßiger, das Publikum immer beliebiger, andererseits hielt das
       abschließende Auflegen vor der Siegessäule einen hohen Standard, und das
       Loveparade-Wochenende in den Clubs, die vielen amüsierentschlossenen Raver
       aus allen Ländern in den Straßen: immer super. Das Label wurde in viele
       andere Städte exportiert.
       
       2001 wurde der Loveparade – trotz der Motte-Reden – der
       Demonstrationsstatus aberkannt. Weil die Veranstalter, die nun die Kosten
       für die Müllbeseitigung bezahlen mussten, Minus machten, wurde die Parade
       2004 erstmals abgesagt. Stattdessen fand eine „Fight the Power“ betitelte
       Demonstration für den Erhalt der Loveparade und „gegen Ignoranz gegenüber
       der Berliner Clubkultur“ auf der alten Route der Loveparade statt, an der
       sich diverse Technoclubs- und DJs beteiligten. Die von vielleicht 20.000
       Leuten besuchte Demonstration und Tanzveranstaltung erinnerte in ihrem
       Spirit an die tollen ersten Loveparaden.
       
       2005 fiel die Loveparade wegen Sponsoring-Problemen wieder aus. 2006 fand
       sie das letzte Mal in Berlin statt. Wieder kamen 1,2 Millionen Menschen;
       Hauptsponsor war erstmals die McFit-Fitnesskette. Der Rest ist traurige
       Geschichte.
       
       1 Jul 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Detlef Kuhlbrodt
       
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