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       # taz.de -- Die Wahrheit: Kohlkaisers Erbe
       
       > Mitten im Hochsommer Grünkohl zu essen, ist äußerst ungewöhnlich und
       > lässt sich nur mit einer unbändigen Portion perverser Heimatliebe
       > erklären.
       
       Ich war platt. „Ein norddeutscher Heimwehabend? Ihr spinnt doch!“ –
       „Wieso?“, sagte Rob: „Ümit und seine Freunde haben sogar ein eigenes
       Clubhaus, wo’s abends türkisches Fernsehen und Özgün Müzik gibt.“ – „Aber
       die sitzen hier im dunklen Deutschland und träumen vom Licht des Südens …“
       – „Na und? Ich träume vom Tuten des Nebelhorns und vom fischigen Duft des
       Watts.“ – „Wenn du meinst, ich brauch das nicht.“ – „Aber du musst kommen!“
       – „Wieso?“ – „Weil du der Erbe des Kohlkaisers bist!“ – „Aber …“ – „Nix
       aber! Samstag um acht!“
       
       Vielleicht war ich der einzige Norddeutsche in der Stadt, der nicht unter
       dem Verlust der Heimat litt und – wie die anderen, die das Leben hierher
       verschlagen hatte – unaufhörlich beklagte, dem Land hinterm Deich entrissen
       worden zu sein. Trotzdem kannte man mich in der Szene, seitdem Rob in
       seiner Internetkolumne „Klabautermanns Klönschnack“ eine Geschichte aus dem
       Legendenschatz meiner Familie verarbeitet hatte, die davon erzählte, wie
       mein Urgroßonkel 1929 bei einem Grünkohlwettessen in Bendixbüttel gegen
       dreizehn andere regionale Kohlkönige gewonnen haben und zum bislang
       einzigen Kohlkaiser Norddeutschlands gekrönt worden sein soll. Ich fand
       Grünkohl seit meiner Kindheit abscheulich und glaubte kein Wort dieser
       Story. Doch das war Rob egal.
       
       „Liebe Freunde: Der Erbe des Kohlkaisers!“, rief Rob, als wir Samstag um
       kurz nach acht das Kulturzentrum im Lokschuppen betraten. „Mann!“, zischte
       ich: „Du hast versprochen …“ Doch schon hörte ich Applaus, und vor mir
       tauchte ein Mann mit rotem Wikingervollbart auf und hielt mir einen Becher
       hin. „Was ist das?“ – „Eiergrog!“ –„Eiergrog?“, sagte ich: „Mitten im
       Sommer?“ – „Na und?“, sagte Rob: „Ein Hochsommertag an der Nordsee hat
       höchstens zehn Grad – da passt Eiergrog bestens!“
       
       Er nötigte mich, das klebrige Zeug runterzuschütten, und schob mich weiter.
       Wir kamen an einer Bastelecke vorbei, in der man Rollmopsrollen lernen und
       ein Husumer Küstenexamen machen konnte, und gelangten zum Ende des Saals,
       wo, umringt von dampfenden Töpfen und Menschen mit Schürzen, ein kleiner
       Tisch stand.
       
       „Setz dich, old boy“, sagte Rob, „denn du entscheidest heute, wer den
       besten Grünkohl der Welt kocht!“ – „Aber ich …“ – „Keine Widerrede!“ Schon
       stand eine Kochmamsell vor mir. „Probieren Sie!“, sagte sie: „Dithmarscher
       Kohl! Der beste, den’s gibt!“ Ich hob abwehrend die Hände, aber sie stopfte
       mir einen Löffel in den Mund. „Bäh!“, machte ich, denn ich hasse Grünkohl,
       wie gesagt. „Da hat sie’s, die eingebildete Tusse“, rief jemand,
       „Dithmarscher Grünkohl ist eklig!“
       
       Schon klatschte mir die Kochmamsell ihren Kohl ins Gesicht, und im
       Handumdrehen tobte mitten im brütenden Hochsommer in einem Lokschuppen 500
       Kilometer entfernt von der kühlen Küste der erste norddeutsche
       Grünkohlkrieg, bei dem sich Dithmarscher, Holsteiner und Ostfriesen
       gegenseitig mit Suppenkellen vermöbelten.
       
       2 Jul 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Joachim Schulz
       
       ## TAGS
       
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