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       # taz.de -- Textilrecycling als Geschäftsmodell: Kleider machen Leute
       
       > Holger Hackbarths Geschäft sind alte Kleider. Er macht Putzlappen daraus
       > und schickt sie um die halbe Welt – und an Hipster zwischen Harz und
       > Heide.
       
   IMG Bild: Klamotten sind sein Schatz: Holger Hackbarth
       
       Hackbarths Lumpenreich liegt eingeklemmt zwischen Autohändlern in einem
       Industriegebiet in Lengede, tiefes Niedersachsen. Bis in die siebziger
       Jahre wurde hier Erz aus der Erde geholt und einmal elf Bergarbeiter, die
       zwei Wochen unter Tage überlebt hatten.
       
       Heute handeln auf dem Gelände viele Firmen mit Dingen, die irgendwer nicht
       mehr haben wollte: Gebrauchtwagen, Altmetall, Elektroschrott. Holger
       Hackbarth, 67 Jahre, gelernter Speditionskaufmann, handelt mit Lumpen –
       seit über 40 Jahren. Textilrecycling nennt es Hackbarth. Die meisten sagen
       Altkleiderhändler. Man könnte auch Lumpensammler sagen.
       
       Hackbarth hat das Magazin der ehemaligen Mine gemietet. Eine Halle, knapp
       100 Meter lang, Keller, Erdgeschoss, Dachboden. Früher standen hier
       meterlange Eisenregale mit Zahnrädern, Kolben und Bolzen. Heute ist die
       Halle bis unter die Decke voll mit Plastiksäcken, auf denen Abkürzungen
       stehen: LOC, Lady Overcoats, Damenjacken. MSH, Men’s Shirts, sortiert nach
       langen und kurzen Ärmeln.
       
       Hackbarth zerschneidet die Lumpen zu Putzlappen, quadratisch, 7 mal 7
       Zentimeter oder 35 mal 35, Spezialanfertigungen auf Wunsch. Er exportiert
       die Lumpen in elf Länder, zu großen Würfeln gepresst, Nigeria, Pakistan,
       Irak. Die Reste schickt er in Reißereien, wo sie anschließend etwa zu
       Dachpappen gepresst werden. Was dann noch übrig ist, landet im
       Müllheizkraftwerk, dann wird zumindest noch Fernwärme daraus.
       
       ## Neues Geschäftsfeld
       
       Rund eine Million Tonnen alte Klamotten entsorgen die Deutschen jährlich,
       ein paar Tausend davon landen im Lengeder Industriegebiet. Hackbarth
       bekommt seinen Rohstoff aus Wohnungsauflösungen, von Wäschereien und rund
       240 Altkleider-Containern zwischen Hannover und Leipzig.
       
       Auf seinen Tonnen steht: „35 Prozent Putzlappen für die Industrie, 22
       Prozent Bekleidung, 2 Prozent Secondhand – Ihre Textilien helfen Rohstoffe
       zu sparen.“ Seit einigen Jahren hat Hackbarth ein neues Geschäftsfeld. Die
       nahe gelegenen Uni-Städte wie Braunschweig, Hildesheim und Hannover
       versorgt er mit hippen Secondhand-Klamotten, ausgefallenen Hüten,
       Karottenhosen, karierten Hemden, überlangen Mänteln, Trainingsjacken.
       
       Hinter den „2 Prozent Secondhand“ auf dem Container verbirgt sich ein
       riesiges Ladengeschäft im vorderen Teil der Halle. Wühltische und Auslagen
       stehen darin, meterlange Stangen, an denen Blusen aus den Siebzigern
       hängen, Cordsakkos oder bunte Frottee-Bademäntel. An einem Donnerstagmittag
       ist nicht viel los. Zwei ältere Frauen wühlen sich durch Damen-Tops, ein
       junger Mann sieht die Hemden durch. Voll werde es hier, sagt eine
       Verkäuferin, vor allem am Wochenende. Dann kommen die Student*innen.
       
       Hackbarths Büro liegt im Keller, versteckt hinter einem Labyrinth aus
       Säcken und einer unscheinbaren Feuerschutztür. Ein paar Fetzen Tageslicht
       dringen durch die Oberlichter auf den Schreibtisch, auf dem sich
       Lieferscheine, Magazine und Aktenordner stapeln.
       
       ## Verrückt muss es sein
       
       Hackbarth, ein wuchtiger Mann mit einem wuchtigen Lachen, sitzt in seinem
       Bürosessel, grinst, und sagt einen Satz wie er auch in einer teuren
       Mode-Boutique in München, Paris oder Mailand fallen könnte: „Mein Laden ist
       ein Angebot für Individualität.“ Hochwertig müsse die Ware für den Laden
       sein, vor allem aber ausgefallen. „Wenn ich 17 Mal die gelbe Bluse mit
       roten Punkten in mein Geschäft hänge, kommen die Studis nicht. Ein gewisser
       Grad an Verrücktheit muss schon sein.“
       
       Hackbarth hat Anzeigen geschaltet, Flyer in Bibliotheken gelegt. Die ersten
       hundert Personen zu erreichen sei das Schwierigste. Der Rest sei
       Mundpropaganda. Es hat funktioniert: In Hildesheim an der Universität
       erzählen Studierende von Wochenendausflügen nach Lengede, vom Flair des
       Ladens oder deuten auf etwas, das sie gerade tragen. Erworben für ein paar
       Euro. Das Umweltbewusstsein führe sie ins Industriegebiet nach Lengede,
       sagen sie.
       
       Hackbarth erzählt von Leuten mit Geld, drei Ärzte aus dem Harz fallen ihm
       ein: „Die können sich eine Gardeur-Hose oder Gerry Weber von der Stange
       leisten, aber kommen alle paar Wochen hierher.“ Viele sähen nicht ein, dass
       mehrere Tausend Liter Wasser für ein Kilo Baumwolle verbraucht würden, aus
       dem dann billige T-Shirts werden. „Langsam“, sagt Hackbarth, „setzt sich
       eine Bewusstseinsänderung durch.“
       
       1977, als er seinen Handel eröffnete, entschied er sich für die verlassene
       Halle nicht nur wegen der günstigen Miete. Ein Grund war auch die
       Abgeschiedenheit. Damals, sagt er, sei Secondhand schmuddelig gewesen. Wer
       arbeitete, verdiente, wer verdiente, konsumierte, Kleider kaufte man neu
       von der Stange.
       
       ## Qualität bestimmt den Preis
       
       Die Leute, die gebrauchte Kleidung trugen, hätten sich geschämt, sagt
       Hackbarth. „Die hatten Angst, dass die Nachbarn draußen vorbeigehen und
       sagen: Schau mal, Emma kauft Secondhand.“ Bei Hackbarth aber gab es keine
       Nachbarn.
       
       Zwar schimpft er auch über die „Wegwerfgesellschaft“ und Fast Fashion, aber
       sein Geschäft macht er damit eben trotzdem. So stellt er seine Container
       strategisch auf: „Je höher die Kaufkraft, desto besser die Ware“, sagt er.
       Leipzig lohne sich momentan, aus kleinen Gemeinden im Harz hingegen zieht
       er seine Container ab – die Standgebühr ist höher als der Ertrag.
       
       Die Qualität bestimmt auch in der Altkleiderbranche den Preis. Ist es nicht
       problematisch, Herr Hackbarth, dass Sie die besten Stücke hier verkaufen
       und nur die zweitbesten in den globalen Süden schicken? „Es ist doch gut,
       wenn die Leute gebrauchte Kleidung bei mir kaufen und nicht zu Primark
       gehen“, sagt Hackbarth. Und hier kriege er eben nur hochwertige Ware
       verkauft.
       
       Kritiker*innen sagen, Menschen wie Hackbarth zerstören mit ihren
       Altkleider-Exporten die Textilmärkte im globalen Süden. Produzent*innen in
       Pakistan, Nigeria oder Ruanda beschweren sich, auch NGOs weisen immer
       wieder darauf hin. „Quatsch“, sagt Hackbarth. „Was den Markt kaputt macht,
       ist die chinesische Neuware. Die ist noch billiger als gebrauchte Kleidung
       und qualitativ viel schlechter.“ Und die lokalen Produzent*innen, die
       gegen gebrauchte Ware aus Europa nicht konkurrieren können? Sprächen
       sowieso andere Käuferschichten an. Wer Geld habe, kaufe nicht Secondhand.
       
       ## Globale Märkte
       
       Hackbarths Geschäft ist es, für jedes Produkt den passenden Markt zu suchen
       – auch wenn der im Irak liegt oder aus den alten Klamotten nur Dachpappen
       werden. Vielleicht wettert er auch deshalb so gegen Billigblusen von
       Primark und Aldi-Pyjamas für 7 Euro. Er hat für sie keine Verwendung. „Aus
       so einem Dreck kann man nicht mal Putzlappen machen“, sagt er.
       
       Unter dem Dach der Lagerhalle riecht es hölzern, ein wenig muffig.
       Hackbarths Mitarbeiter stehen unter Neonröhren und sortieren das
       eingetroffene Material. Damenhosen für Nigeria, in Fünferpacks, nicht
       zerschlissen, Farbe und Schnitt egal. Trainingsanzüge in den einen Korb,
       Hemden in den anderen. Später werden die Bündel einen Stock tiefer zu
       Ballen gepresst und verschickt. Oder im Keller zerschnitten. Oder im
       Erdgeschoss verkauft. Je nach Qualität und Ausgefallenheit.
       
       Hackbarth erzählt einer Mitarbeiterin von den Diolen-Blusen, die er noch im
       Lager hat, Design aus den Siebzigern. Die wollte er ursprünglich in den
       Jemen schicken, aber dann begann dort vor Jahren der Krieg. Jetzt wolle sie
       ein Händler aus Paris haben, mit elf Secondhand-Läden und jungen Leuten als
       Kunden, die für eine Bluse 10 Euro zahlten. „Selbst wenn ich nochmal zehn
       Prozent runtergehe“, sagt Hackbarth, „kriege ich am Ende immer noch viermal
       so viel wie im Jemen.“ Manchmal verdient Hackbarth, der Altkleiderkönig von
       Lengede, Geld, indem er einfach lange genug wartet.
       
       19 Jul 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jonas Seufert
       
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