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       # taz.de -- US-Debatte über Holocaust-Vergleich: Eine Frage des Framings
       
       > Kann man Abschiebelager mit Konzentrationslagern vergleichen? In den USA
       > ist darüber eine Diskussion entbrannt, auch unter Historiker_innen.
       
   IMG Bild: Ob vor dem Wort Camp „Detention“ oder „Concentration“ stehen darf, spaltet in den USA die Gemüter
       
       Die Einrichtungen, in denen die USA Asylbewerber und Immigranten
       einsperren, als „Konzentrationslager“ zu bezeichnen – ist das zulässig?
       Diese Frage treibt Aktivisten in den USA schon länger um. Sie benutzen den
       Vergleich umso häufiger, je rücksichtsloser Grenzschützer und
       Abschiebepolizisten mit den Kindern, Frauen und Männern hinter [1][Gittern]
       umgehen. Inzwischen wird diese Frage auch unter Historikern kontrovers
       diskutiert.
       
       Die Leitung des Holocaust Memorial Museums in Washington hält jeden
       Vergleich mit dem Holocaust für falsch. „Bestrebungen, Analogien zwischen
       dem Holocaust und anderen historischen oder zeitgenössischen Ereignissen zu
       schaffen, lehnen wir unmissverständlich ab“, hatte die Leitung des
       Holocaust Museums [2][Ende Juni auf ihrer Webseite geschrieben]. Und: „Wir
       analogisieren die Situation an der Südgrenze der USA nicht mit den
       Konzentrationslagern im Europa der 30er und 40er Jahre.“ 580
       Holocaustforscher, darunter renommierte internationale Fachleute, halten
       nun dagegen. In einem offenen Brief an die Museumsleitung erklärten sie in
       dieser Woche, die Holocaustforschung habe die Aufgabe, „die Öffentlichkeit
       auf gefährliche Entwicklungen aufmerksam zu machen“ und „auf zeitliche und
       räumliche Ähnlichkeiten hinzuweisen“.
       
       Das Museum ist die Hauptinformationsquelle über den Holocaust für Millionen
       von Besuchern in den USA sowie eine ständige Referenz für Historiker aus
       aller Welt. Zu Letzteren gehört auch die in Deutschland geborene Anika
       Walke, die an der Washington University in St. Louis lehrt und über den
       Holocaust in den deutsch besetzten Gebieten der Sowjetunion forscht. Das
       aktuelle Statement des Museums hat sie enttäuscht. „Forscher brauchen
       Analogien, oder Vergleiche, um zu verstehen, wie die Welt funktioniert, und
       um strukturelle Ähnlichkeiten und Differenzen herauszuarbeiten“, sagt
       Walke.
       
       Gemeinsam mit einer Kollegin, der Historikerin Andrea Orzoff von der State
       University in Neu-Mexiko, hat Walke den offenen Brief der Forscher
       verfasst. Darin nennen sie das Vorgehen des Museums „unhistorisch“. Sie
       schreiben, dass es sich um eine „radikale Position“ handle, „die sich weit
       vom Mainstream in der Holocaust- und Genozidforschung entfernt und das
       Lernen von der Vergangenheit kaum möglich macht“. Adressatin des Briefs ist
       Sara Bloomfield, die das Holocaust Memorial Museum seit zwei Jahrzehnten
       leitet.
       
       ## Nicht gegen das Museum
       
       Die 15 Erstunterzeichner begannen am 26. Juni, den Brief unter Kollegen zu
       verschicken und Unterschriften zu sammeln. Am 1. Juli erschien der Brief
       mit den Namen von 221 Historikern. In weniger als drei Tagen kamen 359
       weitere hinzu. Neben einer Mehrheit von US-Amerikanern und Kanadiern sind
       darunter auch Europäer. Viele haben selbst im Holocaust Museum gearbeitet
       oder Unterstützung von ihm erhalten. „Unsere Initiative richtet sich nicht
       gegen das Museum“, macht Walke deutlich.
       
       In einem [3][Essay in der Washington Post] nennt der Wissenschaftler Emil
       Kerenji das Statement des Museums „seltsam.“ Er hat das fünfbändige Werk
       „Jewish Responses to Persecution, 1933–1946“ veröffentlicht, das sich mit
       den Gräben zwischen jenen befasst, die in Lagern interniert, und jenen, die
       außerhalb waren. Kerenji erinnert daran, dass das Museum Analogien nicht
       immer ablehnt. So hieß es im vergangenen Jahr angesichts der in Myanmar
       verfolgten Rohingya in einer Erklärung: „Die Welt hat die Augen vor ihrer
       Verfolgung geschlossen – genauso wie sie es gegenüber den Opfern des
       Holocaust tat.“
       
       Am 3. Juli schlossen die beiden Historikerinnen ihre Unterschriftenliste.
       „Wir haben unsere Position klargemacht“, sagt Walke. Eine Reaktion der
       Leitung des Holocaust Museums steht noch aus. Aber die Unterzeichner des
       offenen Briefes wissen, dass ihre Diskussion auch unter den Mitarbeitern
       des Museums Widerhall findet.
       
       Noch bevor der Streit unter den Historikern so richtig ausbrach, stieß ein
       Video der linken New Yorker Kongressabgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez
       die Diskussion an. „Lasst uns die Konzentrationslager als das bezeichnen,
       was sie sind“, sagte Ocasio-Cortez im Juni, als Rechtsanwälte nach Besuchen
       in Lagern in Texas über kranke Kleinkinder in überfüllten Zellen,
       unzureichende Ernährung, fehlende medikamentöse Versorgung, katastrophale
       sanitäre Bedingungen, Schlafentzug und andere Vernachlässigungen
       berichteten. „Dies ist eine Krisensituation für Immigranten in den
       Konzentrationslagern“, sagte Ocasio-Cortez, „aber es ist auch eine Krise
       für uns – für die Prinzipien und die Werte Amerikas.“
       
       Schon vor ihr hatten Historiker das Stichwort „Konzentrationslager“ in die
       Debatte über Donald Trumps Grenzpolitik eingebracht. [4][Aviva Chomsky
       erinnerte daran], dass bereits die Spanier im kubanischen
       Unabhängigkeitskrieg „Konzentrationslager“ in ihrer damaligen Kolonie
       eingerichtet haben und dass die USA nach ihrem Eintritt in den Zweiten
       Weltkrieg 120.000 japanische Einwanderer und ihre Nachfahren einschließlich
       Kindern und Großeltern in Lager brachten. Andrea Pitzer, Autorin eines viel
       beachteten Buches über die globale Geschichte von Konzentrationslagern,
       [5][schrieb in der New York Review of Books]: „Wenn es erst einmal
       Konzentrationslager gibt, ist es wahrscheinlich, dass die Dinge schlimmer
       werden.“
       
       ## Protest an den Lagern
       
       Kaum hatte Alexandria Ocasio-Cortez ihr Video online gestellt, fielen
       Donald Trumps Anhänger wütend über sie her, nannten sie ignorant und
       verlangten, dass sie sich bei Holocaustüberlebenden entschuldige oder
       gleich ganz zurücktreten solle. Shmuley Boteach, der sich selbst „Amerikas
       Rabbi“ nennt und der von demselben Kasinomogul Sheldon Adelson finanziert
       wird, der auch zu Trumps größten Geldgebern gehört, schaltete eine
       ganzseitige Anzeige in der New York Times. „Sie entweiht den Holocaust,
       indem sie die USA mit dem Dritten Reich vergleicht“, warf er der
       Abgeordneten vor.
       
       Andere jüdische Prominente aus den USA hingegen stellten sich hinter
       Ocasio-Cortez. Der ehemalige Chef des American Jewish Congress, Henry
       Siegman, der in Frankfurt/Main zur Welt kam, bevor seine Familie in die USA
       floh, [6][schrieb in einem Essay]: „Der Umgang mit Menschen, die um ihr
       Leben fliehen, unterscheidet sich nicht sehr von den Konzentrationslagern,
       in denen Juden in den 30er Jahren von Nazis gefangen gehalten wurden.“ Die
       deutschen Nazis internierten Siegmans Großvater im Konzentrationslager
       Dachau. Damals sei der Mord an den europäischen Juden in Deutschland noch
       ebenso unvorstellbar gewesen, wie es in den USA des Jahres 2016
       unvorstellbar war, dass der Präsident anordnen würde, „Kinder aus den Armen
       ihrer eingewanderten Müttern zu reißen“. In seiner Verteidigung der jungen
       Abgeordneten erklärte der 89-jährige Siegman auch: „Wenn Leute die
       Grausamkeit besitzen, die Trumps Benehmen und Politik gegenüber
       Flüchtlingen bestimmt, sollte man nicht die tiefer gehenden Grausamkeiten
       unterschätzen, deren sie noch fähig sein mögen.“
       
       Die eher akademische Debatte über den Holocaust als Referenzrahmen lässt
       den US-Präsidenten unterdessen kalt. Höhnisch twitterte Donald Trump nur,
       dass die „illegalen Migranten“ ja nicht zu kommen bräuchten, wenn ihnen die
       Bedingungen in den Lagern unangenehm seien. Auch in der [7][Gruppe „Never
       Again Action“], in der junge jüdische Aktivisten gegen Trumps
       Einwanderungspolitik protestieren, geht es weniger um Semantik als vielmehr
       darum, die Misshandlungen von Einwanderern zu stoppen. „Wenn du jüdisch
       bist und etwas gegen die Konzentrationslager an der Grenze unternehmen
       willst, trag dich hier ein“, heißt es auf der Webseite der Gruppe. „Eine
       Menge Politiker sind entsetzt über Worte“, sagt Sprecherin Sophie
       Ellman-Golan, „stattdessen sollten sie sich über die entsetzlichen
       Bedingungen in den Lagern empören.“
       
       Am vergangenen Sonntag haben mehr als 100 Mitglieder von „Never Again“
       kurzfristig das Abschiebelager Elizabeth in New Jersey blockiert, nur 16
       Kilometer westlich von Manhattan. Auf ihren Transparenten beschreiben sie
       sich als Enkel von Holocaustüberlebenden. Als die erste von insgesamt 36
       Demonstranten in Handschellen abgeführt wird, sagt die junge Frau einem
       Journalisten: „Meine Vorfahren waren Partisanen. Sie wären jetzt stolz auf
       mich.“ Eine andere Festgenommene, die Liedermacherin Tae Phoenix, ist für
       die Aktion von der Pazifikküste nach New York geflogen. Kurz nachdem sie
       aus der Polizeihaft entlassen wurde, [8][schrieb sie in einem Artikel für
       Newsweek]: „Wir tun das, was wir von Nichtjuden in Europa in den 30er und
       40er Jahren erwartet hätten.“
       
       4 Jul 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Migranten-Lager-an-US-Grenze/!5606994
   DIR [2] https://www.ushmm.org/information/press/press-releases/statement-regarding-the-museums-position-on-holocaust-analogies
   DIR [3] https://www.washingtonpost.com/outlook/2019/07/01/why-we-resist-holocaust-analogies-why-its-time-embrace-them/?noredirect=on&utm_term=.373970614be8
   DIR [4] https://therealnews.com/stories/are-immigration-detention-centers-concentration-camps
   DIR [5] https://www.nybooks.com/daily/2019/06/21/some-suburb-of-hell-americas-new-concentration-camp-system/
   DIR [6] https://lobelog.com/american-concentration-camps/
   DIR [7] https://www.neveragainaction.com/
   DIR [8] https://www.newsweek.com/jews-against-ice-doing-genitles-should-have-done-concentration-camps-1447386
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Dorothea Hahn
       
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