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       # taz.de -- Türkische Wissenschaftler im Exil: „Kurz vor dem Kollaps“
       
       > Nach dem Putschversuch in der Türkei wurden über 6.000 Wissenschaftler
       > entlassen. Einige konnten das Land verlassen. Rückkehr ist nicht in
       > Sicht.
       
   IMG Bild: Setzt auf islamische Wissenschaftler: Recep Tayyip Erdoğan
       
       Berlin taz | Vielleicht lässt die Art der Scherze unter Studierenden ahnen,
       wie es um die Freiheit in Rede und Forschung eines Hochschulsystems
       bestellt ist. „Als damals unser Professor, Fikret Baschkaja, suspendiert
       wurde, da witzelten wir als junge Assistenten darüber, wer von uns wohl die
       kritischsten Texte verfassen und als Erster rausfliegen würde“, erzählt
       Hakan Mertcan (40), einer der über 200 aus der Türkei nach Deutschland
       geflüchteten Wissenschaftler. Da war eine Suspendierung noch die große
       Ausnahme.
       
       Baschkaja, der linke Autor, Ökonom und Politikwissenschaftler, ist ein
       hartnäckiger Verfechter der Meinungsfreiheit. 2001 nahm er dafür sogar eine
       Haftstrafe in Kauf. Ende Februar wurde der beinahe 80-Jährige verklagt:
       wegen seines Essays „Der wahre Terror ist Staatsterror“, in dem er die
       Strategie der Mächtigen anprangert, ihre Kritiker kurzerhand zu Terroristen
       zu erklären.
       
       Genau das widerfuhr sowohl Baschkaja selbst als auch seinem ehemaligem
       Studenten Hakan Mertcan. Der ist einer der mehr als 2.200 Wissenschaftler,
       die im Januar 2016 den Friedensappell [1][„Wir wollen nicht Teil dieses
       Verbrechens sein“] unterschrieben hatten. Anlass war das gewaltsame
       Vorgehen des Staates in den Kurdengebieten gegen die Zivilbevölkerung,
       unter massiven Menschenrechtsverletzungen und mit Hunderten Toten.
       
       Mertcan war Dozent an der Universität im südtürkischen Mersin, und unter
       seinen rund 500 Studenten waren nicht wenige radikal-nationalistische, es
       gab Morddrohungen. Aus einer Familie arabischer Alewiten stammend gehört er
       ohnehin zu einer unterdrückten Minderheit. Sein Arbeitsvertrag wurde nicht
       verlängert, und der Druck nahm nach dem Putschversuch im Juli 2016 noch
       weiter zu. Im Frühjahr 2017 wagte er die Flucht nach Deutschland, wo er
       bald ein Stipendium der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte antreten
       konnte.
       
       Das ist inzwischen ausgelaufen und der Jurist mit den Spezialgebieten
       Menschenrechte sowie Geschichte der Modernisierung und Säkularisierung in
       der Türkei sucht intensiv nach einem weiteren. „Ich habe keinen anderen
       Beruf.“ sagt er „Das ist meine Liebe, my Alles!“
       
       ## Haftstrafe droht
       
       Von 2016 an sah sich der Jurist mit gleich drei Anklagen konfrontiert. Zwar
       wurde er zweimal wegen an sich harmloser Facebook-Einträge freigesprochen,
       aber wegen der Unterzeichnung der Erklärung drohen ihm siebeneinhalb Jahre
       Haft. Mertcan erklärt sich die scharfe Reaktion damit, dass das Regime
       fürchtete, Akademiker aus der Westtürkei könnten auf den Konflikt
       aufmerksam werden. Insgesamt verloren rund 550 der Unterzeichner ihre
       Stelle, 706 wurden vor Gericht gestellt und 191 zu einer Freiheitsstrafe
       verurteilt (Stand 3. Juli 2019).
       
       Nachdem seit 2016 insgesamt über 6.000 Wissenschaftler per Dekret entlassen
       wurden, scheint nun die türkische Regierung den Aderlass ausgleichen zu
       wollen. Sie versucht, im Ausland arbeitende türkische Wissenschaftler mit
       guten Arbeitsbedingungen zur Rückkehr zu bewegen. Die AKP-nahe Zeitung
       Sabah meint schon einen „umgekehrten braindrain“ zu sehen und präsentiert
       sogar rückkehrwillige Kandidaten, von denen sich ein paar im Ausland
       schlecht behandelt sehen.
       
       Es mag sein, dass einige die günstige Gelegenheit nutzen werden, so
       vielleicht mit einem Karrieresprung auf einem Lehrstuhl im Heimatland zu
       landen. Trotzdem sprechen die Zahlen von ganz anderen Prioritäten: Während
       für 2019 der Etat der Religionsbehörde Diyanet mit ihren gut 123.000
       Mitarbeitern um 36 Prozent erhöht wurde, musste das
       Wissenschaftsministerium Kürzungen um 56 Prozent hinnehmen. Dabei hält sich
       im Schanghai-Ranking der weltweit 500 besten Universitäten einzig noch die
       Universität Istanbul, seit 2016 in der Wertung aber tendenziell absteigend.
       Der Iran mit zwei und Saudi-Arabien mit vier Universitäten schneiden weit
       besser ab.
       
       Das ohnehin schwache türkische Bildungssystem ist nach Hakan Mertcan kurz
       vor dem Kollaps. Nach der Entlassung Tausender Wissenschaftler sei dort
       keine wirkliche Bildung mehr möglich. Den Hauptgrund für den Braindrain
       sieht Mertcan in dem repressiven Regime der Türkei. „Das akzeptiert keine
       wirklichen Intellektuellen mit kritischem Denken. Was man will, das sind
       willfährige Technokraten und muslimische Wissenschaftler. Uns würde man
       niemals zurückholen wollen!“
       
       ## Ein großes Hindernis
       
       Freilich habe es nie eine umfassende Säkularisierung gegeben, aber die
       heutige Situation sei schlimmer als zuvor. „Erdoğan hat den politischen
       Islam in den staatlichen Institutionen sowie die Islamverbände immer
       einflussreicher werden lassen.“ Das würde einmal ein großes Hindernis für
       eine künftige Säkularisierung und wirklichen Laizismus sein.
       
       Die Friedenswissenschaftler werden in vielen Ländern unterstützt. In
       Deutschland vergibt die Philipp Schwartz-Initiative in der Alexander von
       Humboldt-Stiftung seit 2015 Stipendien an verfolgte Wissenschaftler. Mit
       116 von insgesamt 196 kommt der Großteil aus der Türkei. Präsident
       Hans-Christian Pape sieht darin eine Möglichkeit, unser Wissenschaftssystem
       zu bereichern und, wie Geschäftsführerin Barbara Sheldon ergänzt, bringen
       die Geförderten neue, nichtwestliche Perspektiven in den Forschungsdiskurs
       ein und spezifische Kenntnisse ihrer Herkunftsregion mit. Sie können
       „Brückenbauer“ in die Netzwerke anderer Länder sein und sensibilisieren
       dafür, dass Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit nicht selbstverständlich
       sind.
       
       Genau das tun sie – trotz der hohen Belastung eines Lebens in der Fremde
       und ihrer zerstörten Karrieren. Sie halten die Verbindung zu demokratischen
       Kräften in der Türkei, und im Zusammenschluss [2][„Academics for Peace“]
       informieren sie die Öffentlichkeit über die Gerichtsverfahren. Geplant ist
       außerdem eine Konferenz „Demokratische Türkei“.
       
       ## Eine Propaganda-Veranstaltung
       
       Mit Protest reagierten sie auf eine Podiumsdiskussion des Essener „Zentrums
       für Türkeistudien“ zur Integration der syrischen Flüchtlinge in der Türkei
       durch Hochschulbildung am 13. Juni. Denn eingeladen war ausgerechnet ein
       Vertreter des Türkischen Hochschulrats (YÖK), der während der Säuberungen
       an türkischen Universitäten eine Schlüsselrolle spielte. So wichtig ein
       Dialog auch ist: Hier wurde wohl viel Geld ausgegeben für eine Diskussion,
       die keine war, sondern nach einem [3][Bericht der FAZ ] nur eine „zynische
       Propaganda“-Veranstaltung.
       
       Diejenigen Wissenschaftler und Studenten, die, statt wegzuschauen,
       Zivilcourage und Verantwortungsgefühl bewiesen haben, sitzen nun im Exil,
       auf der Straße oder gar im Gefängnis. Wäre die Türkei der demokratische
       Rechtsstaat, der sie laut Verfassung sein soll, wäre ihr Handeln ganz
       selbstverständlich durch das Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt. Ob
       das reichlich verspätete Urteil des türkischen Verfassungsgerichts zum Fall
       Deniz Yücel, das die Anklage wegen „Terrorpropaganda“ für rechtswidrig
       erklärte, nun auch im Fall der Friedenswissenschaftler ein Umdenken
       einleitet – das ist fraglich.
       
       8 Jul 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://kritnet.org/2016/wir-werden-nicht-teil-dieses-verbrechens-sein/
   DIR [2] https://academicsforpeace-germany.org/
   DIR [3] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/tuerkeistudien-tagung-in-essen-wird-zum-propaganda-forum-16239206.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Eva-Maria Brandstädter
       
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