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       # taz.de -- „Der freie Wille siegt bis zu einem gewissen Grad“
       
       > Können wir gegen unsere Hormone handeln? Ein Endokrinologe erklärt, wie
       > Hormone wirken und warum wir Kassenzettel im Supermarkt mit Handschuhen
       > anfassen sollten
       
       Interview Jolinde Hüchtker
       
       taz am wochenende: Herr Spranger, ständig geht es um Hormone. Sie bestimmen
       unser Verhalten, hier ein Mangel, dort ein Überschuss. Sind Hormone
       eigentlich überbewertet? 
       
       Joachim Spranger: Nein. Manche sind ja sogar lebenswichtig: Wenn Cortisol
       fehlt, stirbt der Mensch.
       
       Was genau sind denn Hormone? 
       
       Botenstoffe, die die Funktionen im Organismus regulieren. Meistens werden
       sie in einer Drüse gebildet, durch das Blut transportiert und wirken dann
       an einem bestimmten Zielorgan. Das erkennen sie, weil auf den Zellen der
       Organe spezifische Rezeptoren angebracht sind. Die passen wie das Schloss
       zum Hormonschlüssel.
       
       Hormone können uns müde, zufrieden oder aggressiv machen. Wie stark sind
       wir ihnen ausgeliefert? 
       
       Besonders deutlich wird das, wenn Hormone fehlen. Bei einem Cortisol-Mangel
       fühlen sich Menschen müde und angeschlagen, oft jahrelang. Gibt man ihnen
       dann ein Hormonpräparat, sind sie innerhalb von Stunden gesund und happy.
       Sie erzählen, wie stark sie sich fühlen. Hormone sind aber nur eine von
       vielen Stellschrauben, die über das Verhalten entscheiden.
       
       Kann ich mich also über sie hinwegsetzen? 
       
       Der freie Wille siegt bis zu einem gewissen Grad. Hunger wird zum Beispiel
       hormonell reguliert. Wenn wir bei einer Diät abnehmen, nehmen wir in den
       Monaten danach häufig stärker zu, weil die gegenregulatorischen Hormone
       hochgehen. Wir können uns zwingen, nichts zu essen, auch wenn wir Hunger
       haben, aber irgendwann greifen wir trotzdem nach einem Butterbrot.
       
       Die Forschung scheint widersprüchlich, was Hormone betrifft. Mal soll
       Oxytocin kuschelig machen, mal aggressiv, einerseits soll Testosteron
       egozentrisch machen, andererseits großzügig. Wieso kommt die Forschung da
       nicht voran? 
       
       Das finde ich gar nicht. In der Hormonforschung passiert extrem viel.
       Mittlerweile können wir Diabetes erfolgreich hormonell behandeln, die
       Patienten leben mit den neuen hormonbasierten Therapien länger.
       
       Wieso gibt es dann so viele Unklarheiten? 
       
       Das zeigt nur die Komplexität der Hormone. Auch bei Testosteron gibt es
       neue Erkenntnisse: Man dachte, man könnte Männern Testosteron geben, damit
       sie sich besser fühlen, wenn das Hormon im Alter absinkt. In Studien hat
       sich herausgestellt: Bei Männern mit Herzkreislauferkrankungen erhöht das
       aber das Herzinfarkt-Risiko.
       
       Das Füttern von Masttieren mit Wachstumshormonen ist inzwischen EU-weit
       verboten. Ist damit die Gefahr vom „Hormonfleisch“ gebannt? 
       
       Hormone dürfen in der Tierzucht nur noch als Arzneimittel verwendet werden,
       bei Krankheiten oder zur Tierzucht. Da gibt es Mindestabstände von der
       Behandlung bis zur Schlachtung, deswegen dürften sich eigentlich keine
       gesundheitsgefährdenden Mengen an Hormonen mehr im Fleisch befinden. So wie
       wir Menschen haben Tiere natürlich auch eigene Hormone, ganz ohne
       Arzneimittel. Diese Hormone finden sich ganz natürlich auch in Fleisch.
       
       Beunruhigender sind die Hormone im Grundwasser? 
       
       Da findet man alle möglichen Substanzen. Rückstände von Medikamenten, auch
       hormonellen, wie zum Beispiel Östrogene aus der Pille.
       
       Wenn die Pille einmal durch unseren Körper durch ist, hinterlässt sie also
       trotzdem Hormonrückstände? 
       
       Genau, die landen mit dem Urin im Abwasser. Allerdings ist beispielsweise
       auch bei Schwangeren die Hormonkonzentration im Urin besonders hoch.
       Mitunter ist es also einfach ein physiologischer Prozess, dass wir Hormone
       ausscheiden. Aber die Rückstände von Medikamenten im Grundwasser sind ein
       nicht gelöstes Problem, dessen Folgen für unsere Gesundheit völlig unklar
       sind.
       
       Dazu kommen sogenannte endokrine Disruptoren, die wie Hormone wirken und
       deswegen unser Hormongleichgewicht stören. 
       
       Es gibt Tausende davon in unserem Alltag. Bei einigen ist nachgewiesen,
       dass sie schon in geringen Dosen schädlich sind. Bisphenol A (BPA) ist
       unter anderem an Kassenzetteln dran. In Frankreich ist es komplett verboten
       – hier nicht. Phthalate, sogenannte Weichmacher, lösen möglicherweise
       Übergewicht aus. Diese Weichmacher sind zum Beispiel in Kinderspielzeugen
       oder Plastikbällen drin.
       
       Wie können wir uns schützen? 
       
       Das auf die Verbraucher abzuwälzen, ist unrealistisch. Soll ich im
       Supermarkt nie mehr Quittungen anfassen? Substanz für Substanz muss geprüft
       werden und der Gesetzgeber, am besten auf EU-Ebene, muss
       Mindestkonzentrationen oder Verbote aussprechen.
       
       Was genau machen die Hormonstörer mit uns? 
       
       Das ist im Einzelnen eben nicht klar. Nebenwirkungen sind aber unter
       anderem Übergewicht und Unfruchtbarkeit. Die hormonähnlichen Substanzen
       verhalten sich zum Beispiel wie unser Östrogen. Deswegen können sie die
       Rezeptoren für Geschlechtshormone besetzen und dort Wirkungen verstärken
       oder abschwächen. Die Rezeptor-Aktivierung kann auch Tumorentstehungen
       begünstigen.
       
       Bei Tieren wurde nachgewiesen, dass endokrine Disruptoren die
       Fortpflanzungsfähigkeit beeinträchtigen. Auch bei Menschen werden die
       Stoffe als Grund für Unfruchtbarkeit in Betracht gezogen. Eine Studie von
       2017 ergab, dass die Spermienzahl bei Männern zwischen 1973 und 2011 um gut
       die Hälfte zurückgegangen ist. Sterben wir bald aus? 
       
       Das ist mir zu plakativ. Gefährlich an den Stoffen ist aber tatsächlich ihr
       Masseneffekt: Wir sind ihnen alle ausgesetzt. Auch geringe Konzentrationen
       können so in der Breite eine große Wirkung erzielen. Daher ist wichtig,
       dass diese Substanzen besser untersucht werden.
       
       29 Jun 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jolinde Hüchtker
       
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