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       # taz.de -- Polizeiseelsorger über Kindesmissbrauch: „Das Gesehene nimmt mit“
       
       > Kripobeamte, die für den Lügde-Prozess Kinderpornos auswerten, sind
       > psychisch stark beansprucht, sagt der Polizeipfarrer Bredt-Dehnen.
       
   IMG Bild: Kaum zu begreifen. Missbrauch an Kindern lässt alle ratlos zurück
       
       taz: Herr Bredt-Dehnen, beim gerade laufenden [1][Prozess um den
       massenhaften Kindesmissbrauch auf einem Campingplatz in Lügde] geht es vor
       allem um die Opfer und die Täter. Es sind aber weitaus mehr Menschen von
       den Folgen der sexuellen Gewalt betroffen, beispielsweise Polizist*innen,
       die das gefundene Bild- und Videomaterial auswerten. 
       
       Dietrich Bredt-Dehnen: Viele Polizeibeamte, die sich auf 104 Stellen in
       Bielefeld und im Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen verteilen, schauen
       und hören sich die Bilder, Dateien, Tonaufnahmen an, ordnen sie ein und
       untersuchen sie auf Strafbarkeit. Sie müssen unter anderem herausfinden, ob
       des weitere Opfer und Täter gibt. Und ob der Vorwurf des sexuellen
       Kindesmissbrauchs, der den drei Tatverdächtigen vorgeworfen wird, stimmt.
       
       Ist das nicht relativ klar? Auf dem Material sollen die drei Männer zum
       Teil zu sehen und zu hören sein, sie haben viele Taten gestanden. 
       
       Das sind zehntausende Dateien, jede einzelne muss angeklickt werden. Viele
       Dateien haben die Angeklagten nicht selbst produziert, sondern die stammen
       aus dem Internet, von Online-Tauschbörsen und Tauschringen. Manches davon
       kennt die Polizei bereits. Die sichtenden Beamten müssen filtern: Was ist
       alt, was ist neu?
       
       Was sind das für Menschen, die sich beruflich solch brachiale Gewalt
       ansehen? 
       
       Ganz normale Kripobeamte, die diese Arbeit freiwillig übernommen haben. Sie
       wollen, dass die Täter bestraft und die Kinder gerettet werden, dass der
       Missbrauch aufhört.
       
       Wie wirkt sich das Sichten des Materials auf die Psyche der
       Kriminalist*innen aus? 
       
       Die meisten entwickeln im Laufe der Zeit eine Art Resilienz, sie lassen
       bestimmte Dinge nicht so dicht an sich heran. Das müssen sie tun, sonst
       könnten sie die Arbeit nicht machen. Das ist bei Beamten, die
       Todesnachrichten überbringen oder an Tatorte mit Leichen gerufen werden, im
       Übrigen auch so.
       
       Das heißt, sie stumpfen ab? 
       
       Nein, ganz und gar nicht. Das Gesehene und Gehörte nimmt die Polizist*innen
       erheblich mit. Manche werden überaus empfindsam und tragen das Gesehene
       nach Hause. Wenn sich beispielsweise eine junge Mutter fragt, ob sie ihrem
       strampelnden Baby die Beine auseinanderdrücken darf, um es zu wickeln. Oder
       ein Vater, der seine Kinder in der Hitze nicht mehr nackt im Garten
       herumtoben lässt, weil die Nachbarn die Kinder ja fotografieren könnten.
       Oder wenn jemand auf dem Spielplatz oder im Schwimmbad hinter jedem engeren
       Körperkontakt eines Erwachsenen mit einem Kind etwas Ungebührliches
       vermutet.
       
       An dieser Stelle kommen Sie ins Spiel? 
       
       Ja, dafür sind wir Polizeiseelsorger und andere Kriseninterventionsdienste
       da. Wir sprechen mit den Frauen und Männern, wir fangen ihre Gedanken und
       Ängste auf, wir bieten präventiv Supervision, Beratung und Einzelgespräche
       an. Sie können alles sagen, was sie beschäftigt. Das Sichten und Auswerten
       des Materials ist eine psychisch hoch belastende Tätigkeit. In zum Glück
       seltenen Fällen benötigen manche nach einer gewissen Zeit eine
       Psychotherapie oder eine spezielle Traumabehandlung. Mitunter begleiten wir
       auch die Familien der Kripobeamten. Ziel unserer Arbeit ist, dass alle
       Polizist*innen in diesem belastenden Arbeitsbereich psychisch stabil und
       gesund bleiben.
       
       Werden die Beamten, die das Material sichten, gesondert psychologisch
       geschult? 
       
       Sie bekommen keine psychologische Schulung, werden aber inzwischen gut auf
       das, was sie tun müssen, vorbereitet. Ebenso wichtig sind scheinbar
       lapidare Dinge wie ein bestens ausgestatteter Arbeitsplatz, moderne
       Software, ein angenehmer Raum. Da ist erheblicher Nachholbedarf und in der
       Polizei NRW wird dem nun endlich nachgegangen.
       
       Wie lange täglich sichten die Kolleg*innen das Material? 
       
       Phasenweise bis zu sechs oder acht Stunden. Wer nicht mehr kann oder nicht
       mehr will, darf jederzeit aufhören und zeitweilig pausieren. Und natürlich
       auch ganz aussteigen. Niemand wird dazu gezwungen.
       
       104 Stellen allein in NRW klingt viel. 
       
       Ist es aber nicht. Um das Material zeitnah auszuwerten, müssten es
       mindestens dreimal so viele Beamte sein. Das [2][Besondere am Lügde-Fall
       ist,] dass der Missbrauch über einen solch langen Zeitraum niemanden
       aufgefallen sein will. Die gefundene Datenmenge ist leider relativ normal.
       Wir reden bundesweit von Petabytes, eine unfassbar riesige Datenflut.
       
       Petabytes mit kinderpornografischem Material sind normal? 
       
       Aus den USA werden monatlich hunderte von IP-Adressen von verdächtigen
       Computern in Deutschland an das BKA in Wiesbaden und von dort an die
       hiesigen Behörden übermittelt, man kann die Täter gewissermaßen bis ins
       Wohnzimmer verfolgen. Aber die kurze Dauer der gesetzlich erlaubten
       Vorratsdatenspeicherung in Deutschland gestattet es nicht, viele Fälle
       weiterzuverfolgen. Das, was tatsächlich ermittelt wird, ist nur die Spitze
       des Eisbergs.
       
       9 Jul 2019
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Simone Schmollack
       
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