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       # taz.de -- Im Wachsfigurenkabinett: Wie eine Freak-Show
       
       > Im Jahre 1869 eröffnete mit dem legendären „Castans Panoptikum“ das erste
       > Wachsfigurenkabinett in deutschen Landen – natürlich in Berlin.
       
   IMG Bild: In Castans Panoptikum: Kaiser mit Familie samt Gefolge in Wachs; historische Aufnahme von 1880
       
       Die Szenerie ist unheimlich. Da stehen sie, aufrecht, alterslos, das
       komplette Königliche Haus in Lebensgröße versammelt, das Zepter in der
       Hand, die Puschel auf dem Kopf, Preußen-Overkill. Hermann Rückwardt
       inszenierte 1880 dieses Foto der Hohenzollern-Dynastie im Kaisersaal von
       Castans Panoptikum.
       
       In diesem Fall war ihnen das Fußvolk überlegen und hatte die Macht, denn
       die royalen Herrschaften waren aus Wachs und konnten nicht entkommen – es
       sei denn, man zündelte ein wenig, um sie zum Schmelzen zu bringen. Einst
       sollten sie den Besuchern die ihnen fremde Welt veranschaulichen,
       vielleicht aber auch beruhigend wirken, um eine Aufsässigkeit der
       Untertanen zu verhindern … Die Zuschauer strömten tatsächlich sehr gesittet
       herbei, um sie und andere Wachsfiguren der „Permanenten Kunstausstellung“
       zu bestaunen, wie das ganze Ensemble in den damaligen Adressbüchern hieß.
       
       Die ursprüngliche Grundidee war, aktuelle Zeitgeschichte anhand plastischer
       Darstellungen von Persönlichkeiten zu vermitteln. 1869 eröffnete Gustave
       Castan (1837–99) den Panoptikum-Reigen in noch bescheidenen Räumlichkeiten
       An der Stechbahn, einer Straße am ehemaligen Stadtschloss, dem „Roten
       Schloss“ – so genannt, weil es ein wenig wie das Berliner Rathaus aussah.
       Sein Bruder Louis (1828–1908), der zu dieser Zeit in England weilte, um
       dort das Herstellen von anatomischen Modellen zu erlernen, wurde nach
       seiner Rückkehr Mitinhaber.
       
       Das Kabinett wurde 1872 durch einen Brand komplett zerstört, ein Jahr
       später zog es am 22. März in eine repräsentative Behausung in der
       Kaiser-Galerie, Passage 33, Unter den Linden, um. Allerhöchster Besuch kam
       zur Eröffnung: Das Kaiserpaar begutachtete seine wächsernen Alter Egos und
       gab milde seinen Segen. 1888 schließlich mussten die Wachsfiguren erneut
       ihre Koffer packen und in den Pschorr-Palast an der Ecke Friedrich- und
       Behrenstrasse umziehen, ursprünglich wohl Restaurant der Münchner
       Pschorr-Brauerei, das später zu Ladenlokalen umfunktioniert wurde.
       
       ## Eine krude Mischung
       
       Gustave und Louis Castan, in Berlin geborene Ururenkel des 1747 in Castres
       (Frankreich) verstorbenen Schneiders Jacques Castan aus der Provinz
       Languedoc, hatten die künstlerische Ader ihrer hugenottischen Vorfahren
       geerbt. Ihr Vater, Jean Fréderic, war Schauspieler, ihr Urgroßvater,
       Jacques, Tanzlehrer, wie die 1897 in Berlin gedruckten „Stammbäume der
       Mitglieder der Französischen Kolonie“ verrieten. Gustave und Louis
       entschieden sich zunächst für die künstlerische Bildhauerei, tauschten dann
       aber irgendwann Gips und Marmor gegen Wachs, was ihnen aber bald auch nicht
       mehr ausreichte.
       
       Obwohl sie als Künstler durchaus sehr angesehen waren, der letzte Pfiff
       fehlte, und so stiegen sie sukzessive auf das Motto „Menschen, Tiere,
       Sensationen“ um. Schon bald gab es kein Halten mehr, die Brüder gaben
       alles, damit sich ihr Publikum gepflegt in der „Alles-Schau“ gruseln
       konnte: Trophäen, Totenmasken, menschliche Anormalitäten und Kuriositäten,
       aber auch Mörder in der so genannten „Schreckenskammer“, vor der ein Schild
       „nur für erwachsene und nervenstarke Personen“ die Neugier nur noch mehr
       anheizte, und noch vieles mehr. Eine krude Mischung, anziehend und
       abstoßend zugleich.
       
       In der Folge klingelten die Kassen: „Fehlt’s ihr nicht an Geld,
       alsdann/Strengt der Castan sich auch an,/Manches Bild von größern
       Mördern/Fleißig an das Licht zu fördern“, hieß es bereits 1874 in einem
       satirischen Gedicht in der Zeitschrift Berliner Wespen.
       
       Dass die Castans dann sogar Tiere und lebende Menschen „importierten“ hatte
       auch das äußerst wohlwollende Interesse von Rudolf Virchow geweckt, dem
       Mitbegründer der Berliner Anthropologischen Gesellschaft, der zudem mit
       Louis Castan befreundet war. Da wurden munter Zulus, australische
       Ureinwohner, hindustanische Gaukler, Pygmäen, „Bärenweiber“, „20
       Sioux-Indianer, lebend“ etc. aus fernen Ländern herangekarrt, vermessen,
       fotografiert, bestaunt, betätschelt, letzten Endes im übertragenen Sinne
       seziert, um dann noch vom Publikum begafft zu werden. Ein sehr schmaler
       Grad zwischen Wissenschaft und Voyeurismus, ehrlichem Interesse und
       kolonialem Herrenmenschentum. Heute völlig unverständlich.
       
       ## Ableger in Köln und Brüssel
       
       Über die australischen Ureinwohner ließ Virchow zum Beispiel in der
       Berliner Volkszeitung vom 25. Juli 1884 verlauten, dass das „krause, weiche
       Kopfhaar gänzlich verschieden von dem der afrikanischen Volksstämme sei.
       Für diese „Erkenntnis“ mussten die Ureinwohner die für sie sicherlich sehr
       strapaziöse Reise in einen völlig fremden Kulturkreis auf sich nehmen, um
       sich dann in ihrer „Andersartigkeit“ wie im Zoo bestaunen zu lassen.
       
       Für das „gemeine Volk“ zählten hingegen weniger anthropologisches
       „Spezialwissen“ als unübersehbare Fakten, unter anderem zwei völlig
       übergewichtige Danziger „Herkulesknaben“ oder ein genauso bedauernswerter
       junger Mann namens Hassan Ali aus der libyschen Wüste, der mit 16 Jahren
       bereits 2,40 Meter groß war. Er gehörte 1894 zu den zahlreichen
       Attraktionen einer Ausstellung, die immer weniger eine angebliche
       „Völkerschau“ als Freak-Show war.
       
       Gegen Ende der 1880er Jahre jedoch hatte es bei Castan bereits angefangen
       zu kriseln, trotz aller Sensationen und vergangener Erfolge, die dazu
       geführt hatten, dass es auch in anderen Städten ein „Castans Panoptikum“
       gab. So zum Beispiel in Köln oder in Brüssel, geleitet von Moritz Castan,
       einem unehelichen Sohn von Pauline Castan, der Schwester Gustaves und
       Louis’.
       
       Eine mögliche Intrige kam schließlich erschwerend hinzu: 1895 stellte man
       Louis Castan wegen „Verbrechens gegen die Sittlichkeit“ unter Anklage, weil
       er 1893 angeblich die Tochter eines Töpfermeisters, die ihm Modell
       gestanden hatte, zu „unzüchtigen Handlungen“ gezwungen haben soll. Was sich
       nach der Gerichtsverhandlung als falsch erwies und Louis Castan schließlich
       am 7. Juli 1895 freigesprochen wurde.
       
       ## Dann kam der Stummfilm auf
       
       Als Gustave Castan am 21. Juli 1899 in Charlottenburg starb hinterließ er
       eine Ehefrau und drei Söhne, aber kein Unternehmen mehr. Das war im April
       1899 bereits in eine GmbH mit den drei Gesellschaftern Max Fincke
       (Generaldirektor der Schöneberger Schlossbrauerei), dem Bildhauer Ernst
       Skarbina und Louis Castan übergegangen. Louis Castan verließ die
       Gesellschaft jedoch wieder, nachdem er sein gesamtes Vermögen und seine
       Potsdamer Villa verloren hatte. Am 14. Juli 1908 starb er völlig verarmt in
       einem Schöneberger Krankenhaus.
       
       Im Laufe der Zeit wurden die statischen Wachsfiguren zunehmend unmodern,
       der Stummfilm versprach viel mehr Exotik, aber eben mit lebenden Menschen.
       Nach dem Ersten Weltkrieg wollte sich zudem niemand mehr in der
       „Schreckenskammer“ gruseln, die hatte man vier Jahre lang am eigenen Leib
       erfahren müssen, und die Monarchie war tot.
       
       Die schlechte wirtschaftliche Lage nach Kriegsende tat ein Übriges: 1922
       schloss die legendäre Alt-Berliner Institution „Castans Panoptikum“ seine
       Pforten.
       
       13 Jul 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bettina Müller
       
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