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       # taz.de -- Tanz in Brasilien: Die Körper und ihre Feinde
       
       > Tanz ist fast eine Allegorie für Brasilien. Doch Bolsonaros Politik lässt
       > junge Künstler*innen um ihren Beruf und ihre Freiheiten bangen.
       
   IMG Bild: Krakenhafte Wesen in apokalyptischer Landschaft in „Dogs with Feathers“ von Deborah Colker
       
       Ana Paula, die viel älter ist, als sie aussieht, sagt: „Die Zukunft ist
       nicht für uns.“ Nielson, der gerade noch einen schwul-koketten
       Charaktertanz geprobt hat, jetzt aber ernst und etwas verträumt wirkt,
       nickt: „Wir verlieren unseren Boden. Es macht Angst.“ Und André, sein
       kongenial verschmitzter Duettpartner, ergänzt: „Unsere Eltern wuchsen in
       einer Gesellschaft auf, in der Kultur nicht so wichtig war. Wir sind eine
       andere Generation. Und wir werden jetzt zu Feinden gemacht.“
       
       Immer wenn jemand in diesem Gespräch über die Auswirkungen der aktuellen
       brasilianischen Politik auf die Tanz- und Performance-Szene etwas sagt,
       nicken die anderen oder streichen sich gegenseitig zur Bestätigung über die
       verschwitzten Schultern oder Beine.
       
       Dann verschwinden Ana Paula Camargo, André Grippi und Nielson Souza zur
       nächsten Probe ins freundliche Studio der Companhia de Dança in São Paulo
       mit zur Stadt hin geöffneten Fenstern. Es ist untergebracht im historischen
       Zentrum der 20-Millionen-Einwohner-Metropole, im Kulturzentrum Oswald de
       Andrade, benannt nach dem Autor des berühmten antikolonialen
       Anthropophagie-Manifests.
       
       ## Es ist leicht, sich als Teil der Masse zu fühlen
       
       Geprobt wird an zwei Werken, die beim Wolfsburger Festival Movimentos in
       diesem Monat in Premiere gehen (siehe Kasten). Das über die Volkswagen AG
       finanzierte Festival ist ein wichtiger Kooperationspartner für
       internationale Ensembles. Es trägt auch einen Teil der Reisekosten für die
       Recherchereise, die Basis dieser Reportage ist.
       
       Brasilien gilt als Land der körperlichen Sinnlichkeit. Und das ist weit
       mehr als ein Klischee. Der Effekt ist spürbar. Es ist leicht, sich als
       integrierter Teil der Menschenmasse zu fühlen, mit unterschiedlichsten
       Körpern, in queerer oder Büro-Garderobe, mit viel oder wenig freier Haut.
       In den Schaufenstern gibt es dünne und fülligere Puppen unterschiedlicher
       „Hautfarbe“. Die Bewegung im öffentlichen Raum verläuft respektvoll,
       elegant, umsichtig.
       
       Braucht jemand Hilfe, wird sie sofort angeboten. Umarmungen gibt es oft und
       an den Metro-Stationen Behälter mit Gratiskondomen. Die allerdings werden,
       wie Inês Bogéa, die zierlich-elegante Direktorin der Companhia de Dança,
       mir verrät, nur nachts mitgenommen. Rempeln und Pöbeln erlebe ich nirgends.
       Auch nicht auf der großen Freitagsdemonstration gegen die massiven
       Bildungskürzungen der Regierung.
       
       ## Chauvinistische Bevormundung
       
       Wie kann eine solche Gesellschaft sich zu so viel Körperfeindlichkeit
       aufpeitschen lassen, wie es seit der Präsidentschaft des offen
       rassistischen und homophoben Präsidenten Jair Bolsonaro passiert?
       
       „Brasilien ist heuchlerisch“, kommentiert Morena Nascimento. Sie hat im
       letzten Jahr das sehr erfolgreiche Stück „Um Jeito de Corpo“ (Der Weg eines
       Körpers) für das Balé da Cidade, das andere große Tanzensemble der Stadt,
       choreografiert. „Wir sind so sinnlich, aber auf der anderen Seite ist es
       für Frauen verboten, oben ohne an den Strand zu gehen. Darauf gibt es
       Gefängnis. Wir sind immer noch Fetische für die Männer.“
       
       Diese Art chauvinistische Bevormundung hat sich, vor allem von
       evangelikaler Seite, in den zweieinhalb Jahren politischer Wirren, die der
       Wahl Bolsonaros vorausgingen, mehr und mehr auch auf Tanz und Performance
       ausgewirkt. Der Wendepunkt war 2017, als massive mediale Hetzkampagnen
       gegen körperpositive und queere Kunst losgetreten wurden.
       
       ## Performance manipuliert
       
       Einer der von Verleumdungen und Hate-Speech überhäuften Künstler_innen ist
       Wagner Schwartz, der für das Kunstmuseum São Paulo die Performance „La
       Bête“ in Korrespondenz mit Lygia Clarks Skulpturengruppe
       „Bichos“entwickelte. Dabei konnte sein nackter Körper vom Publikum
       bearbeitet und arrangiert werden. Als eine Mutter und ihr Kind sich
       beteiligten und Schwartz an Bein und Arm berührten, wurde ein Video der
       kurzen Szene aufgenommen, manipuliert und ins Netz gestellt.
       
       Es hagelte Kommentare im Stil von: „Wenn ich dich auf der Straße sehe,
       werde ich keine Gnade mit dir haben, du unreiner und nutzloser Hund.“ Die
       Mutter des Kindes, ebenfalls eine Choreografin, musste sich mehreren
       Polizeiverhören stellen. Schwartz wohnt inzwischen in Paris.
       
       ## „Wir sind die Generation Lula“
       
       Der Berliner Theaterintendant Wagner Carvalho, ein Kenner brasilianischer
       Politik, nennt in einem einordnenden Gespräch die Frage, die sich derzeit
       viele Linke stellen: „Was haben wir falsch gemacht, als wir das Land
       politisierten?“ Die freien Tänzerchoreograf_innen Júlia Rocha und Eduardo
       Fukushima, beide Mittdreißiger, nähern sich dieser Frage im Britischen
       Kulturinstitut São Paulos. Sich charmant ergänzend, widmen sie dem Exkurs
       einen ganzen Nachmittag. Die gesellschaftliche Polarisierung, die in Bezug
       auf die moralischen Werte einer pluralistischen Gesellschaft sichtbar wird,
       sehen sie zum großen Teil als Bildungsproblem.
       
       Der momentan arretierte Lula da Silva gilt ihnen als der erste Präsident
       (2003–2011), der sich um Bildungs-, Sozial-, Diversitäts- und
       Genderpolitik gekümmert hat. „Es war die Zeit, in der Tanzstudiengänge an
       den Unis aufgemacht wurden. Wir haben, anders als unsere Lehrer_innen, ein
       Universitätsstudium abgeschlossen. Sie gingen ins Ausland, um sich ein
       Leben als Künstler_innen aufzubauen, wir blieben. Wir sind die Generation
       Lula.“
       
       Dieser Generationsbruch zieht sich auch jenseits des Kunstkontextes durch
       viele Familien. Die Mobilisierung Bolsonaros gegen Universitäten, vor allem
       Geisteswissenschaften und Forschung, trifft oftmals gerade in der
       Elterngeneration auf fruchtbaren Boden. Alle dazu Befragten haben
       Erfahrungen in der eigenen Familie.
       
       Schon auf dem Flug nach São Paulo schildert Mauro, mein Sitznachbar,
       angehender Ingenieur, seine Auseinandersetzung mit dem Vater, der Bolsonaro
       gewählt hat. Ana Paula von der Companhia de Dança rief irgendwann ihre
       Mutter an: „Mama, unser Onkel ist verrückt geworden.“
       
       ## Bildungsfeindlichkeit Bolsonaros
       
       Und sogar in afrobrasilianischen Familien soll die ältere Generation
       zuweilen Bolsonaro gewählt haben (was bei mehr als 50 Prozent schwarzen
       Bevölkerungsanteils wahrscheinlich ist). „Sie dachten, Bolsonaro meine
       seine Rassismen nicht ernst, er wolle damit nur die Linke vor den Kopf
       stoßen“, erzählt Louis, Ende 30, lange Braids, am Rand der
       Bildungsdemonstration. Überall um ihn herum sind T-Shirts und Banner mit
       der Aufschrift „Generation Lula“ zu sehen.
       
       Universitäten und Kunst gelten Bolsonaro, der als eine der ersten
       Amtshandlungen das Kulturministerium abgeschafft hat, als Hort von
       „Kommunisten“. Darüber lässt sich achselzuckend Witze machen: dass er die
       Wörter „Kommunisten“ und „Demokraten“ verwechsle. Oder, wie Júlia Rocha
       rhetorisch fragt: „Wie kann er das wissen, wo er doch nie eine Universität
       besucht hat?“ Die Hassparolen des Präsidenten begännen jedoch sich in den
       Köpfen festzusetzen.
       
       „Wir werden als Vagabunden bezeichnet“, sagt Rocha. Andere als die
       wirtschaftlich primär relevanten Lebensformen würden im aktuellen
       politischen Klima nicht akzeptiert. Das betonen auch Marsio, Physiker, und
       Sheila, Philosophin, am Rand der Demo: „Dass zur Universität auch Forschung
       gehört, kann Bolsonaro nicht verstehen.“ Der Präsident hat unterdessen
       nicht nur die Ausgaben für Universitäten um 30 Prozent gekürzt, sondern
       setzt auch klare Prioritäten. So twitterte er Ende April in Bezug auf
       Kürzungen in den Fachbereichen Philosophie und Soziologie: „Das Ziel
       besteht darin, sich auf Bereiche zu konzentrieren, die dem Steuerzahler
       eine unmittelbare Rendite bringen, wie z. B. Veterinärwesen, Ingenieurwesen
       und Medizin.“
       
       ## São Paulo ist eine Stadt der Mauern
       
       Bolsonaros Eingriffe sind umso tragischer, als die demokratischen
       Infrastrukturen so jung sind wie die „Generation Lula“. Sie ist weitgehend
       nach Ende der Militärdiktatur in Brasilien aufgewachsen und hoch motiviert.
       In São Paulo, der Wirtschaftsmetropole des Landes, hat sich die Kunstszene
       in den letzten Jahren rasant entwickelt. Im Hinblick auf die
       Selbstorganisation genauso wie auf Soziales. Soziale Segregation ist in
       Brasilien immer noch Alltag, die Marginalisierung vor allem indigener und
       afrobrasilianischer Bevölkerungsgruppen Realität.
       
       São Paulo ist eine Stadt der Mauern. Alles, was Putz, Fenster und Tür hat,
       ist umzäunt und bewacht. Der Rest ist Favela. Außer im historischen
       Zentrum, wo überall Menschen sterbebereit auf der Straße liegen, sähe die
       Stadt ansonsten im Vergleich zu Europa stellenweise fast ein wenig nach
       Sci-Fi aus. Gepflegt. Funktional. Chic. Bis zur Mauer. Das Ballett der
       Favela Paraisópolis hat in einer Selbstdarstellung aufgelistet, was wer auf
       welcher Seite der Mauer im Monatsdurchschnitt verdient. Der Unterschied
       beträgt 93 Prozent.
       
       ## Hochpolitisierte Tanzszene
       
       Dieses Bewusstsein ist in der hochpolitisierten Tanzszene vorhanden. So
       gehören Education- und Anti-Rassismus-Programme sowie die Zusammenarbeit
       mit Krankenhäusern oder Kulturinitiativen in sozial benachteiligten
       Gegenden nicht nur zum Profil der großen Ensembles wie der São Paulo
       Companhia de Dança oder de Balé da Cidade, sondern auch zur Arbeit freier
       Tänzer_innen.
       
       Der von dem brasilianischen Pädagogen Paolo Freire geprägte Begriff des
       ignorant master spielt dabei eine wesentliche Rolle. Es geht nicht darum,
       Wissen zu vermitteln. Vielmehr werden gemeinsame Erfahrungen gesammelt, aus
       denen sich Wissen generiert. 78 Tänzer_innen arbeiteten bis vor zwei Jahren
       an solchen Transfer-Programmen. Unter João Doria, dem jetzigen Gouverneur
       und kurzzeitigen Bürgermeister São Paulos, liefen sie allerdings aus.
       Eduardo Fukushima, der davon erzählt, kommentiert lakonisch: „Werkzeuge zu
       entwickeln, um die Bedingungen zu verändern, ist schließlich gefährlich.“
       
       Ex-Bürgermeister Doria spielt eine dubiose Rolle im brasilianischen
       Machtkampf. Zwar gehört er der brasilianischen Sozialdemokratischen Partei
       an, hat die Wahl Bolsonaros aber unterstützt. Gegen den Kandidaten des
       verhinderten Lula, Fernando Haddad, der ihm auf dem Bürgermeisterposten in
       São Paulo vorausging.
       
       ## Beschneidung der Zuwendungen
       
       Auch national hat es erste radikale Kürzungen gegeben. Durch die
       Beschneidungen des Lei Rouanet, bei dem Steuergelder – nach einem
       Eignungsverfahren – an Kunstprojekte vergeben werden können, sind derzeit
       vor allem große Kompanien wie die Companhia de Dança oder die Kompanie von
       Deborah Colker aus Rio de Janeiro betroffen. Während die künstlerische
       Direktorin Inês Bogéa sich von ihrem Anwalt Möglichkeiten erarbeiten ließ,
       dennoch die gleiche Sponsorensumme zu erreichen, muss Colker in Zukunft 23
       Prozent mehr aus Ticketverkäufen erwirtschaften, insgesamt 60 Prozent.
       
       Auch hatten für ihre Kompanie die Korruptionsermittlungen der sogenannten
       Operation Lava Jato direkte Auswirkungen, bei denen der Konzern Petrobras
       im Mittelpunkt stand und die dafür sorgten, dass Ex-Präsident Lula da Silva
       ins Gefängnis musste. Petrobras war Hauptsponsor von Colker. Inzwischen
       stellte sich durch geleakte Dokumente von The Intercept heraus, dass die
       Korruptionsermittlungen im Hinblick auf die Verhinderung der Wiederwahl von
       Lula inszeniert gewesen sein könnten.
       
       ## Apokalyptische Landschaft
       
       Das war zum Zeitpunkt des Gesprächs mit Colker aus Anlass eines Gastspiels
       von „Cão sem plumas“ (Hund ohne Federn), ihrem aktuellen Stück, noch nicht
       klar. Die von ihr geschaffenen, krakenhaften Menschenwesen, die durch eine
       apokalyptische Landschaft ziehen, sprechen aber eine eigene Sprache. In
       Worten ist die hochenergetische Choreografin zurzeit dagegen vorsichtig:
       „Es ist zu früh, etwas zu sagen. Der Effekt, sofort zu reagieren und
       loszuschreien, ist gefährlich.“
       
       Júlia Rocha, deren neues Stück „Imagine“ heißt, fühlt unter der
       ideologischen Aushungerungspolitik vielleicht Ähnliches, schließt aber
       anderes: „Wir sind in einer Starre. Wir fühlen in unseren Körpern, dass es
       sehr schwer ist, eine gute Zukunft zu imaginieren.“
       
       15 Jul 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Astrid Kaminski
       
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