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       # taz.de -- „Sea-Watch“-Kapitänin festgenommen: Lebensretterin unter Hausarrest
       
       > Carola Rackete hat 53 Menschen aus Seenot gerettet. Nach dem Anlegen in
       > Lampedusa wurde die Kapitänin der „Sea-Watch 3“ festgenommen.
       
   IMG Bild: Hat 53 Menschen sicher nach Italien gebracht: die Kapitänin der „Sea Watch 3“, Carola Rackete
       
       Berlin taz | Die „Sea-Watch 3“ dümpelt vor der italienischen Insel
       Lampedusa. „In Spuckweite“, wie Philipp Hahn sagt. Er ist der Einsatzleiter
       des Rettungsschiffs, spricht schnell und aufgeregt. „Wir sind derzeit Gäste
       auf einem beschlagnahmten Boot.“ 15 der ursprünglich 22 Crew-Mitglieder
       sind nach wie vor an Bord.
       
       Nach mehr als zwei Wochen auf offener See hat Carola Rackete am frühen
       Samstagmorgen eine Entscheidung getroffen. Die Kapitänin der „Sea-Watch 3“
       hat mit dem Seenotrettungsschiff auf Lampedusa angelegt, obwohl sie dafür
       keine Erlaubnis der italienischen Behörden hatte. Nach dem Einlaufen in den
       Hafen wurde das Schiff beschlagnahmt und die 31-jährige Rackete
       festgenommen – laut Behörden wegen mutmaßlicher Gewalt gegen ein
       Kriegsschiff und versuchter Verursachung einer Havarie. Das Rettungsschiff
       hatte beim Einlaufen ein Motorboot der Polizei gerammt. Ein Versehen, wie
       Rackete mitteilen ließ.
       
       Die 40 auf dem Boot verbliebenen aus Seenot Geretteten durften aber an Land
       gehen. Der Rest der Rettungscrew blieb an Bord, um das Boot vor den
       italienischen Behörden zu schützen, sagt Einsatzleiter Hahn.
       
       Der italienische Innenminister Matteo Salvini hatte zuvor [1][ein Verbot
       gegen das Einlaufen der „Sea-Watch 3“ in Lampedusa ausgesprochen] – obwohl
       sich bereits verschiedene europäische Städte bereit erklärt hatten, die
       Geflüchteten aufzunehmen. Am Mittwoch bezeichnete Salvini das Schiff als
       „gesetzlos“ und als „Komplize der Schleuser“ und forderte die Staatsanwälte
       auf, einen Haftbefehl gegen Rackete auszustellen.
       
       „Obwohl die Staatsanwaltschaft eine Untersuchung gegen mich eingeleitet
       hat, hat sie auch gleichzeitig bekannt gegeben, dass sie uns nicht helfen
       wird, die Geretteten von Bord zu holen“, sagte Rackete [2][in einem Video
       der „Sea-Watch“] in der Nacht vom Freitag auf den Samstag. „Das heißt, nach
       wie vor warten wir auf eine Lösung, die sich leider nicht abzeichnet.
       Deswegen habe ich mich jetzt entschlossen, selbstständig im Hafen
       anzulegen.“
       
       Mehrere Tage lang hatte die Deutsche auf eine politische Lösung für die 53
       Menschen gewartet, die sie am 12. Juni vor der Küste Libyens gerettet
       hatte. Dreizehn von ihnen konnten bereits in Italien an Land gehen. 40
       weitere Geflüchtete mussten aber noch auf dem Schiff ausharren. „Die
       Situation war hoffnungslos. Und mein Ziel war es lediglich, erschöpfte und
       verzweifelte Menschen an Land zu bringen“, sagte die 31-jährige Deutsche
       über ihre Anwälte der italienischen Tageszeitung Corriere della Sera am
       Sonntag. „Ich hatte Angst.“ Sie habe Suizide befürchtet.
       
       ## „Das ist ein Skandal“
       
       [3][Im Interview mit der taz] sprach Rackete am Mittwoch vergangener Woche
       über die psychologischen Belastungen der Geretteten. Viele brächten
       traumatische Erfahrungen mit: „Die Geschichten reichen von Versklavung,
       über sexuelle Gewalt, Entführung und Zwangsarbeit. Es besteht die Gefahr
       von Retraumatisierungen.“ Sie bräuchten vermutlich eine psychologische
       Betreuung, „weil sie Menschenrechtsverletzungen erleben mussten“. Zum
       Verbot Italiens, mit dem Schiff anzulegen und die Menschen an Land gehen zu
       lassen, sagte sie: „Das ist ein Skandal, denn im Seerecht ist klar
       geregelt, dass Schiffbrüchige so schnell wie möglich an Land gebracht
       werden müssen.“
       
       Die Staatsanwaltschaft Sizilien hat gegen Rackete Ermittlungen wegen des
       Verdachts der Unterstützung von Menschenhändlern eingeleitet. Italienischen
       Medienberichten zufolge drohen ihr bis zu zehn Jahre Haft. Ein
       „Sea-Watch“-Sprecher wies die Vorwürfe zurück und sagte, Rackete habe sich
       streng an internationales Recht gehalten. Bundesaußenminister Heiko Maas
       (SPD) warnte vor einer Vorverurteilung. „Menschenleben zu retten ist eine
       humanitäre Verpflichtung“, schrieb der SPD-Politiker [4][am Samstag auf
       Twitter]. „Seenotrettung darf nicht kriminalisiert werden. Es ist an der
       italienischen Justiz, die Vorwürfe schnell zu klären. [5][#Seawatch]“.
       
       Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat die italienischen Behörden
       ebenfalls wegen der Festnahme kritisiert. Es könne ja sein, dass es
       italienische Rechtsvorschriften gebe, wann ein Schiff einen Hafen anlaufen
       dürfe. „Nur: Italien ist nicht irgendein Staat. Italien ist inmitten der
       Europäischen Union, ist Gründungsstaat der Europäischen Union. Und deshalb
       dürfen wir von einem Land wie Italien erwarten, dass man mit einem solchen
       Fall anders umgeht“, sagte Steinmeier im ZDF-Sommerinterview.
       
       Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn fordert seinen
       italienischen Kollegen Enzo Moavero Milanesi auf, sich für die Freilassung
       der deutschen Kapitänin einzusetzen. In einem [6][über Facebook
       verbreiteten offenen Brief] schrieb er, Rackete sei gezwungen gewesen, die
       40 Geflüchteten nach Lampedusa zu bringen. „Menschenleben retten ist eine
       Pflicht“, erklärt auch Asselborn, „und sollte nie als ein Delikt oder
       Verbrechen eingestuft werden; diese Pflicht nicht wahrnehmen, hingegen,
       wäre ein Verbrechen.“
       
       ## Schon den ganzen Tag treffen Seenotrufe ein
       
       Italien hatte der Crew schon vor dem Anlegen mit Geldstrafen von bis zu
       150.000 Euro und der Organisation „Sea-Watch“ wegen Bildung einer
       kriminellen Vereinigung mit juristischen Schritten gedroht, sagte Rackete
       [7][im taz-Interview]. Die Fernsehmoderatoren Jan Böhmermann und Klaas
       Heufer-Umlauf haben [8][im Netz zu Spenden aufgerufen]. „Wer Menschenleben
       rettet, ist kein Verbrecher!“, so der Spendenaufruf. „Diesem Unrecht
       tatenlos zuzusehen, ist keine Option.“ Das Geld könne für anfallende
       Rechtskosten für Carola Rackete und weitere Ausgaben der Lebensretter
       genutzt werden. Bis Sonntagnachmittag hatten sie bereits mehr als 500.000
       Euro gesammelt.
       
       Währenddessen berichtet Einsatzleiter Hahn von mehreren Zwischenfällen,
       seit die „Sea-Watch 3“ an Lampedusa angelegt hat. Sonntagmittag sei ein
       kleines Holzboot mit 15 Asylsuchenden vorbeigeschwommen. Schon den ganzen
       Tag treffen Seenotrufe ein.
       
       Die Mannschaft der „Sea-Watch 3“ versucht nun schnellstmöglich, eine
       Ersatzkapitänin zu finden. Nach der Durchsuchung durch die italienischen
       Behörden soll das Schiff wieder aufbrechen, um im Mittelmeer in Seenot
       geratene Boote zu retten.
       
       30 Jun 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Sea-Watch-3-vor-Lampedusa/!5607383
   DIR [2] https://twitter.com/seawatchcrew/status/1144762858951139328
   DIR [3] /Kapitaenin-ueber-Sea-Watch-Situation/!5606254
   DIR [4] https://twitter.com/HeikoMaas/status/1144949474076319744
   DIR [5] https://twitter.com/hashtag/Seawatch?src=hash
   DIR [6] https://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=918189895188087&id=100009912550538&__xts__%5B0%5D=68.ARDanS-FiVblB_h-OkWWMZtq9xNTnGSVynqcmu4JSOhhvF4iWPML3kx1GLF-e5b3gLoopFmxBnGLliINNy3FHQUt6II_H3fmktIOxpoW3xiTkGNyhWuJRIEFfMFNJG8eb_5UfNTj_ohutb1pfeaLUVcx45SDuOTzjOTLHZyrTb8UkMtBKaf_7Ld__7tA7ysQzhD45PdFOW3NR3M&__tn__=-R
   DIR [7] /Kapitaenin-ueber-Sea-Watch-Situation/!5606254
   DIR [8] https://www.leetchi.com/c/leben-retten-ist-kein-verbrechen-lasst-uns-die-seenotretter-retten
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Belinda Grasnick
   DIR Kevin Culina
       
       ## TAGS
       
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   DIR Kapitänin über „Sea Watch“-Situation: „Wir werden trotz Verbot anlegen“
       
       Die Seenotrettungs-NGO „Sea Watch“ ist mit ihrem Eilantrag gescheitert.
       Laut Kapitänin Carola Rackete ist die Lage auf dem Schiff so kritisch, dass
       sie Italien trotzdem ansteuert.