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       # taz.de -- Regierungserklärung im Unterhaus: Boris Johnson startet durch
       
       > Der neue Premierminister bildet ein Brexit-Kabinett und verspricht ein
       > „goldenes Zeitalter“. Er hofft auf einen neuen Brexit-Deal mit der EU.
       
   IMG Bild: Klingt eher nach Wahlkampf als nach Regierungserklärung: Boris Johnson im Unterhaus
       
       Berlin taz | Die Arme wedelten in alle Richtungen, die Stimme überschlug
       sich, manchmal verschluckte er seine Sätze und drehte sich in alle
       Richtungen. Boris Johnsons erster Auftritt im britischen Unterhaus [1][als
       Premierminister] war so fulminant, wie seine Fans es sich gewünscht und
       seine Kritiker es befürchtet hatten. Der um blumige Worte nie verlegene
       Parlamentspräsident John Bercow, der in diesem Regierungschef jetzt
       erstmals seinen rhetorischen Meister gefunden hat, musste Johnson einmal
       sogar auffordern, nicht mit der Hand das Mikrofon hinwegzufegen. Ansonsten
       kapitulierte Bercow zuweilen vor dem Gejohle und Gebrüll der
       aufgepeitschten Parlamentarier aller Seiten.
       
       Es sollte eigentlich nur eine Regierungserklärung werden, bevor sich das
       Parlament in die sechswöchige Sommerpause verabschiedet. Es hörte sich eher
       an wie der Auftakt eines Wahlkampfs, der zwar noch nicht begonnen hat, an
       dessen Näherrücken aber niemand zweifelt. Jeremy Corbyn, Führer der
       Labour-Opposition, forderte Boris Johnson auf, das Ergebnis seiner
       Brexit-Neuverhandlungen mit der EU dem Volk vorzulegen, und kündigte an,
       Labour werde für den EU-Verbleib eintreten, wenn dieser neue Deal
       Arbeitsplätze oder Sozial- und Umweltstandards gefährde.
       
       Die Konservativen brüllten in gespielter Empörung, Johnson konnte sich vor
       Begeisterung kaum halten: Das sei ja hier wie in der letzten Szene des
       Science-Fiction-Blockbusters „Invasion of the Body Snatchers“, höhnte er,
       der Labour-Chef sei offensichtlich von irgendwem zu einem EU-Unterstützer
       „umprogrammiert“ worden, und jetzt sei klar: Die Konservativen seien die
       Partei der Mehrheit, Labour die der Minderheit. Corbyn saß geplättet auf
       seiner Bank.
       
       Den Großteil seiner Regierungserklärung widmete Johnson [2][dem Brexit].
       Einen „neuen“ und „besseren“ Deal mit der EU wolle er aushandeln, und er
       hoffe, dass die EU darauf eingehe. Ein neues Abkommen sei die beste Lösung,
       aber wenn es keines gebe, werde Großbritannien die EU trotzdem verlassen.
       „Alles andere würde zu einem katastrophalen Vertrauensverlust in das
       politische System führen.“ Der Weg zu einem neuen Brexit-Abkommen führe
       über die Überwindung des ungeliebten Nordirland-Backstop – technische
       Alternativen, mit denen sich neue Grenzkontrollen in Irland vermeiden
       ließen, seien schließlich vorhanden. Dem Austritt am 31. Oktober sei er
       „absolut verpflichtet“, betonte Johnson.
       
       [3][Das Kabinett], das der neue Premier in der Nacht zuvor gebildet hatte,
       ist denn auch eine Brexit-Regierung. Alle Minister mussten sich
       verpflichten, einen Brexit am 31. Oktober notfalls auch ohne Deal zu
       unterstützen. Deswegen ist Johnsons Rivale um die konservative
       Parteiführung, der bisherige Außenminister Jeremy Hunt, nicht mehr dabei,
       ebensowenig dessen Unterstützer und andere prominente Verbündete der
       Expremierministerin Theresa May, die dem Parlamentsauftritt ihres
       Nachfolgers fernblieb.
       
       Die höchsten Posten in der Regierung halten jetzt Politiker, die schon in
       der Brexit-Kampagne zur Volksabstimmung 2016 prominente Rollen einnahmen
       (siehe Bildergalerie). Insgesamt, so rechnen Fachjournalisten vor, halten
       sich zwar EU-Gegner und EU-Befürworter von damals die Waage, so wie schon
       bei Theresa May – aber die Gegner haben diesmal die wichtigeren Rollen
       inne. Und es ist die ethnisch diverseste Regierung, die Großbritannien je
       hatte.
       
       Die klügsten intellektuellen Köpfe des Brexit halten die wichtigsten
       organisatorischen Funktionen: Brexit-Stratege Michael Gove als
       Kabinettsminister mit einer koordinierenden Rolle für
       No-Deal-Vorbereitungen, Brexit-Vorkämpfer Jacob Rees-Mogg als
       Parlamentsminister mit Zuständigkeit für Gesetzesvorhaben,
       Brexit-Wahlkampfleiter Dominic Cummings als Johnsons Sonderberater, dem
       alle Ministerialberater quer durch die Regierung direkt unterstellt sind
       und dessen Mitstreiter aus der Referendumskampagne jetzt auch die
       Kommunikationsabteilung des Premierministers führen. Die siegreiche
       Vote-Leave-Kampagne von 2016 wird Regierungsteam.
       
       Der Brexit ist dabei aber nicht das Ende, sondern erst der Anfang. Schon
       2016 galt der EU-Austritt den konservativen Brexit-Befürwortern wie Johnson
       nicht als Selbstzweck, wie bei den radikalen Europagegnern um Nigel Farage,
       sondern als Mittel zum Zweck: um Entscheidungskompetenzen, die bisher in
       Brüssel angesiedelt sind, nach London zurückzuholen und damit politische
       Gestaltungshoheit zurückzugewinnen. „Unsere Mission“, rief Boris Johnson im
       Parlament denn auch gleich zu Beginn seiner Rede, „ist, den Brexit zum 31.
       Oktober zu vollziehen, um dem Vereinigten Königreich neue Energie zu geben
       und dieses Land in den tollsten Ort der Welt zu verwandeln“.
       
       Er zeichnete das Bild eines Großbritannien, das bis zum Jahr 2050 die
       reichste und größte Volkswirtschaft Europas wird, der attraktivste
       Investitionsstandort zur Entwicklung neuer Technologien, die globale
       Führungsnation beim Kampf gegen den Klimawandel, „sauber, grün, vereint,
       wohlhabend und ambitioniert“. Der 31. Oktober sei, wenn der Brexit
       eintrete, für Großbritannien „der Beginn eines neuen goldenen Zeitalters“.
       
       Auch das klang eher wie eine Wahlkampfrede. Die beste Möglichkeit,
       Neuwahlen schon vor dem 31. Oktober anzusetzen und damit den drohenden
       No-Deal-Brexit vom Wählervotum abhängig zu machen, hat die Opposition aber
       schon verspielt. Labour-Chef Jeremy Corbyn ist der Einzige, der jederzeit
       im Parlament die Vertrauensfrage stellen und damit Neuwahlen erzwingen
       kann. Er hat es nicht getan, trotz entsprechender Aufforderung durch die
       frischgebackene Liberalenchefin Jo Swinson. Boris Johnson kann erst mal
       ungestört bis Anfang September in die parlamentarische Sommerpause gehen.
       
       25 Jul 2019
       
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