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       # taz.de -- Berlin 1929: Nicht wirklich unterhaltsam
       
       > Seine Geschichte wurde oft beschrieben und besungen. Doch das Berliner
       > „Nachtgespenst“ war kein harmloser Unterhalter, sondern sexuell
       > übergriffig.
       
   IMG Bild: Auch der Schauspieler Kurt Gerron besang das „Nachtgespenst“
       
       Am 21. Januar 1930 erschien Theobald Tigers Gedicht „Das Nachtgespenst“ in
       der Zeitschrift Die Weltbühne. Darin reimte sich Kurt Tucholsky, der sich
       hinter dem Pseudonym verbarg, beschwingt durch ein schweres Trauma, das die
       Berliner das gesamte Jahr 1929 über stark bewegt hatte. Als hätten sie
       sonst keine Sorgen gehabt. Verwirrt tauften sie das nächtliche Phantom, um
       das es dabei ging, das „Nachtgespenst“.
       
       Vor 90 Jahren war es, seit Herbst 1929, in Berlin verstärkt zu etlichen,
       mitunter sehr merkwürdigen Einbrüchen gekommen. Manchmal küsste der
       nächtliche Besucher weibliche Schlafende oder er zog ihnen die Bettdecke
       weg. Die Opfer schrien in Todesangst, woraufhin das „Nachtgespenst“ auch
       schon mal einen Revolver zückte, zunächst damit hilflos herumfuchtelte,
       aber dann zuverlässig das Weite suchte und im geheimnisvollen Dunkeln der
       Nacht verschwand.
       
       Doch es gab bald nicht nur ein einziges, originales „Nachtgespenst“,
       Trittbrettfahrer sprangen auf den seltsamen Zug auf. Zumeist waren es
       Spanner, die gar nicht auf materielle Beute aus waren, sondern ihre Opfer
       sexuell belästigten. Bald wusste keiner mehr so richtig, wer den seltsamen
       „Trend“ eigentlich ausgelöst hatte. Die Presse differenzierte dabei
       tatsächlich sehr genau: „Das Nachtgespenst, diesmal das wahrscheinlich
       richtige, ist in der vergangenen Nacht in Neukölln […] aufgetreten“,
       vermeldete die Berliner Börsenzeitung am 27. Dezember 1929 über den
       Einbrecher, der die Schlafende auch „betastet“ habe.
       
       Bereits im März 1929 hatte die Berliner Polizei einen Dachdecker verhaftet,
       der als angebliches „Nachtgespenst“ ein riesiges Beutelager in seiner
       Wohnung angesammelt hatte. Dieser Mann hatte jedoch die Beute im Blick,
       nicht die Schlafenden. Er konnte also nicht der „Richtige“ sein. In Kurt
       Tucholskys Gedicht war auch schon wieder ein anderer gemeint, ein braver
       Beamter auf seltsamen Abwegen.
       
       ## Gefundenes Fressen
       
       Für die Berliner Tagespresse war das Phänomen natürlich ein gefundenes
       Fressen. Kennzeichnend für die Berichterstattung war eine gewisse
       Romantisierung der Täter, eine daraus resultierende Entkriminalisierung und
       somit auch Verharmlosung, die von einem großen Teil des Publikums begierig
       rezipiert und vor allem nicht hinterfragt wurde. Verharmlost wurden so auch
       die sexuellen Übergriffe, Verbrechen wurde zu Entertainment. In manchen
       Fällen wurde der Verbrecher gar zum Objekt der Begierde für einsame Frauen
       stilisiert, die angeblich schon auf den Besuch des „Nachtgespensts“ warten
       würden.
       
       Das Ganze sprach sich schließlich auch im deutschsprachigen Ausland herum:
       „Zärtlich umfasst er die Schlummernde und drückt einen Kuss auf ihre
       Lippen, dann verschwindet er lautlos, wie er gekommen“, fantasierte zum
       Beispiel unverhohlen enthusiastisch die österreichische Illustrierte
       Wochenpost am 22. November 1929 auf ihrer Titelseite und wollte in
       derselben Ausgabe sogar wissen: „Auf alle Fälle hat das gute Nachtgespenst
       noch nie jemand etwas Ernstliches zuleide getan“.
       
       Die Taten des Verbrechers wurden somit nicht zuletzt verbal legalisiert,
       man gab ihm die Carte Blanche, weiterhin Frauen zu Tode zu erschrecken, und
       kreierte einen sehr zweifelhaften Mythos. Das sehr fragwürdige Verständnis
       gipfelte zu allem Überfluss dann noch in dieser in dem Zusammenhang
       beispiellos frauenfeindlichen Aussage: „Denn schließlich ein bisschen
       geküsst oder gestreichelt zu werden, hat keiner Frau noch geschadet“. Heute
       zum Glück undenkbar.
       
       ## Gefasst und verurteilt
       
       Der ratlose Berliner Polizeipräsident setzte schließlich eine hohe
       Belohnung für die Ergreifung des Täters aus. Und tatsächlich: ein gewisser
       Johann Janoschka geriet nun in den Fokus der Ermittlungen und in den
       starken Verdacht, das „Nachtgespenst“ zu sein, das Original, versteht sich.
       Das war nämlich nicht „nur“ ein Einbrecher, sondern auch ein gefährlicher
       „Grabscher“.
       
       Am 25. März 1930 konnte die Polizei endlich seine Festnahme vermelden. Er
       hatte diesmal Pech gehabt. Ein Wohnungsbesitzer am Savignyplatz machte sich
       mit seinem Sohn beherzt an die Verfolgung des Phantoms, das sich am Bahnhof
       Wedding beim Sprung aus dem Zug das Bein brach. Johann Janoschka gestand
       schließlich einen Bruchteil seiner wohl tatsächlich verübten Einbrüche, gab
       dabei aber auch zu, dass er Frauen belästigt habe. Es habe ihm, laut
       Kriminalkommissar Dr. Lüdtke der „Typus des sympathischen Verbrechers“,
       Spaß gemacht, ihnen die Bettdecke wegzuziehen, sie zu küssen und zu
       streicheln, sodass er schließlich „nicht davon lassen“ konnte, wie er bei
       seinen Verhören zugab.
       
       Janoschka hatte eine klassische Verbrecherkarriere hinter sich. Der
       uneheliche Sohn eines schlesischen Fabrikanten kam mit zwölf Jahren in eine
       Fürsorgeeinrichtung, begann zunächst eine Buchdruckerlehre, suchte dann
       aber das Weite und beging schließlich erste Diebstähle. Dann kam er nach
       Berlin, wo er auf Jahrmärkten und in Kaschemmen seine Brötchen verdiente.
       Schließlich schloss er sich mit anderen zusammen, um sich auf Einbrüche zu
       spezialisieren.
       
       1930 ging das mittlerweile schon folkloristisch zu nennende Motiv, das eng
       verwandt ist mit dem des Fassadenkletterers, der in der Weimarer Zeit
       Hochkonjunktur hatte, fest in die Unterhaltungskultur ein. Es wurde der
       Star von Schwänken und Kurzgeschichten in Lifestyle-Magazinen. Kurt Gerron
       besang es schließlich spitzbübisch-zart in der Rudolf Nelson-Revue „Der
       rote Faden“, und das wurde in Berlin zum absoluten Hit in den Bars und
       Tanzlokalen. Friedrich Hollaender hatte dafür unter anderem getextet: „Ich
       bin dein Nachtgespenst, / Dein süßes Nachtgespenst, / Ich weck dich, wennde
       pennst, / So oft, bis du mich Liebling nennst; / Steig ich durchs Fenster
       ein, / Reizt mich kein Edelstein, / Nein, nur dein Elfenbein / Reizt mich
       allein.“
       
       Am 20. Januar 1931 wurde Janoschka wegen schwerer Diebstähle sowie drei
       Fällen von Notzucht angeklagt und zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe
       verurteilt, von der Anklage der Vergewaltigung einer Postbeamtin jedoch
       mangels Beweisen freigesprochen. Nach seiner Freilassung fand er eine
       Arbeitsstelle bei einem Bauunternehmer. Doch dann wurde er wieder
       rückfällig und kam auch seiner Meldepflicht gemäß dem neuen „Gesetz über
       die planmäßige Überwachung von Berufsverbrechern“ nicht mehr nach.
       
       Anfang März 1936 wurde er erneut verurteilt, diesmal zu neun Jahren
       Zuchthaus, fünf Jahren Ehrverlust und Sicherheitsüberwachung. Seit 1933 war
       in der Presse Schluss mit sympathischen Berichten über den
       „Gentleman-Verbrecher“ und „harmlose Nachtgespenster“. Und Janoschka
       verschwand vom Radar. Schauspieler Kurt Gerron, dessen richtiger Name Kurt
       Gerson war und der das „Nachtgespenst“ so kokett-charmant besungen hatte,
       endete als Jude im KZ in Auschwitz, wo er am 15. November 1944 ermordet
       wurde. Der Sänger Max Raabe versuchte sich in den 1990er Jahren an einer
       Neuinterpretierung des Chansons, das Original ist jedoch bis heute
       unerreicht.
       
       28 Jul 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bettina Müller
       
       ## TAGS
       
   DIR taz-Serie Sexuelle Gewalt
   DIR sexueller Missbrauch
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