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       # taz.de -- 150 Jahre Kaugummi: Gib Gummi
       
       > Seit 150 Jahren in aller Munde: Am 27. Juli 1869 wurde der Kaugummi
       > patentiert. Drei Geschichten von Blasen, Küssen und Hollywood.
       
   IMG Bild: Pubertät ohne Kaugummi? Früher undenkbar!
       
       ## Smartes Flirtmittel
       
       Kippe und Kaugummi gehören zusammen wie Bier und Korn. Kaugummi aber ist
       nicht mehr das bonbonfarbene Klebzeug, was man sich an einem langen Faden
       aus dem Mund zieht. Kaugummi ist nur noch dazu da, den Atem schön, die
       Zähne weiß und den Ohrdruck klein zu halten. Man sieht kaum noch offensive
       Raucher und kaum noch offensive Kaugummikauer. Beide verschwanden ungefähr
       zeitgleich.
       
       Heute ist der Wegwurf von Kippe und Kaugummi teurer als ihr Erwerb.
       Schmeißen Sie sie in eine Umgebung, die sich nicht als Mülleimer versteht,
       zahlen Sie dafür 75 Euro.
       
       Kippe und Kaugummi sind Dinge, deren Gebrauch Spuren hinterlässt:
       Kippenstummel vor Hauseingängen, in Blumentöpfen, auf Untertassen und
       eklige Klebbatzen auf Straßen, unter Schuhen und Schulbänken. Es war sogar
       mal cool, wenn auch nicht schick, beim Rauchen Kaugummi zu kauen oder beim
       Kaugummikauen zu rauchen. Aber auch wer beides strikt voneinander trennte,
       wusste sie als Oralschmeichler zu schätzen.
       
       Gemeinsam war Kippe und Kaugummi auch, dass sie äußerst taugliche
       Gesprächsöffner und smarte und elegante Mittel des Flirtens waren. Aber
       fragen Sie heute mal jemanden nach einer Zigarette, einem Kaugummi oder
       einem Feuerzeug. Doris Akrap
       
       ## Zungenkuss mit Pfefferminzgeschmack
       
       Der erste Kuss wäre ohne Kaugummi undenkbar gewesen. Also Kaugummi vor dem
       Kuss, nicht währenddessen, denn der Austausch von Kaugummis im laufenden
       Kaubetrieb, das ist dann doch was für Fortgeschrittene. Die ganze Pubertät
       wäre ohne Kaugummi undenkbar gewesen, also währenddessen.
       
       Und in einer westdeutschen Pubertät der Achtziger gab es dann noch so etwas
       wie einen heimlichen, exotischen, glamourösen Star, der zugleich irgendwie
       vertraut schmeckte. „Hollywood“ aus Frankreich, die Romy Schneider unter
       den Kaugummis. Eigentlich nur richtig schön, wenn ulkig-französisch
       ausgesprochen („Ölliwuud“), auf jeden Fall aber schmackhaft, sogar in der
       Richtung „Chlorophyll“.
       
       Hollywood-Kaugummi kaute man in den Achtzigern, während man dem Soundtrack
       aus den „La Boum“-Filmen mit Sophie Marceau lauschte, möglichst dabei
       Klammerblues tanzend in einem Partykeller. „Dreams are my Reality“. Und
       dann: Zungenkuss mit Pfefferminzgeschmack, schon der deutsch-französischen
       Freundschaft wegen – denn in Deutschland gab es den Kaugummi nicht zu
       kaufen. Das Internet war noch nicht eingeschaltet, und es gab
       EU-Grenzkontrollen, batteriebetriebene Walkmen. Und Twix hieß noch Raider.
       Martin Reichert
       
       ## Erschreckend erwachsen
       
       Zu den schrecklichsten Qualen, die Kinder sich noch bis in die 1990er Jahre
       gegenseitig zufügen konnten, gehörte das Kaugummi im Haar. Damals, im 20.
       Jahrhundert, als Eltern ihrem Nachwuchs die Zuckerwaren noch nicht so
       streng verboten wie heute, hörte man alle paar Tage in einer Schulhofecke
       ein langhaariges Kind, meist also ein Mädchen, schluchzen – nachdem ein
       anderes Kind ihm einen klebrigen Fladen auf den Hinterkopf geklatscht oder,
       noch gemeiner, mit Schmackes in den Schopf gerieben hatte. Unmöglich, das
       Zeug wieder herauszubekommen, wie das ziepte!
       
       Radikales Abschneiden war meist die einzige Lösung. Ich behaupte, dass die
       Haftkraft früher, als das Kaugummi noch in dünnen, knisternden Streifen
       dargereicht wurde, deutlich höher war als heute, da der Stoff oft in
       klinisch anmutender Drageeform daher kommt. Wie ein verlogenes
       Nahrungsergänzungsmittel, wie jämmerliche Potenzpillen oder Abführmittel
       tritt das Gummi jetzt auf – erschreckend erwachsen, bäh!
       
       Die Zungenakrobatik – eine weithin unterschätzte Sportart, wie ich in
       meiner Eigenschaft als Frau hier einmal ganz grundsätzlich anmerken möchte
       – kann man sich auch sparen: Mit etwas, das für seinen „wirksamen
       Zahnputzeffekt“ beworben wird, lassen sich keine lustigen Blasen blasen,
       vergessen Sie’s. Katja Kullmann
       
       27 Jul 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Doris Akrap
   DIR Katja Kullmann
   DIR Martin Reichert
       
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