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       # taz.de -- Tod nach Festnahme in Erfurt: Kein Bild, kein Name
       
       > Ein Mann versucht, einen Rucksack zu klauen und wird festgenommen. 25
       > Stunden später ist der Algerier tot. Was ist passiert?
       
   IMG Bild: Warum starb ein junger Mann in Polizeigewahrsam in Erfurt?
       
       Erfurt taz | Am Kiosk stehen die mit Bratwurst, die mit viel Zeit, und am
       Freitag vergangener Woche steht dort auch ein Rucksack, mit dem alles
       beginnt. Es ist früher Abend, ein Mann nähert sich dem Stand. Er versucht,
       den Rucksack zu stehlen. Der Besitzer desselbigen aber bemerkt ihn und
       wehrt sich. Beamte der Bundespolizei kommen hinzu. Sie nehmen den
       Verdächtigen mit auf die Wache, die nur wenige Schritte von dem Imbiss
       entfernt liegt. 25 Stunden später ist der Mann tot.
       
       Was ist passiert? Am Dienstag, dem dritten Tag nach dem Tod des Mannes,
       verschickt die Staatsanwaltschaft Erfurt eine Pressemitteilung. „Die
       Staatsanwaltschaft und die Kriminalpolizei Erfurt ermitteln wegen eines
       unnatürlichen Todesfalles“, heißt es darin. Und an späterer Stelle: „Zur
       Klärung der Todesursache wurden histologische und chemisch-toxikologische
       Untersuchungen beauftragt. Diese werden einige Zeit in Anspruch nehmen.“
       
       Die Staatsanwaltschaft schildert den Verlauf wie folgt: Beamte der
       Bundespolizei hätten gegen 17.30 Uhr vor einem Imbiss einen Diebstahl
       beobachtet, einen Mann vorläufig festgenommen und auf ihre Dienststelle
       gebracht. Dort hätten sie festgestellt, dass der Mann unerlaubt nach
       Deutschland eingereist war. Und sie finden eine größere Menge Medikamente:
       Mittel, die Abhängige nehmen, wenn sie einen Entzug machen wollen –
       sogenannte Drogenersatzmedikamente. Deshalb sei ein Notarzt hinzugekommen,
       der bestätigt habe, dass der Mann gewahrsamstauglich sei.
       
       Die Beamten hätten den Festgenommenen befragt, dieser sei dabei immer
       wieder eingeschlafen. Später ordnet die Staatsanwaltschaft an, den Mann
       gehen zu lassen. Die Beamten hätten entschieden, ihn nicht zu wecken. Auch
       sei er mehrfach kontrolliert worden. Mitten in der Nacht stellen die
       Polizisten schließlich fest, dass die Vitalfunktionen ausgesetzt haben. Sie
       reanimieren ihn, er kommt ins Krankenhaus. Dort verstirbt er gegen 18.30
       Uhr, am Samstag.
       
       Ein Mann stirbt in Obhut der Polizei, und alles, was von ihm bleibt, sind
       ein paar Eckdaten. Algerier. 32 Jahre alt. Kein Name. Kein Bild. Die Person
       hinter den Daten ist verschwunden.
       
       ## Kein Anfangsverdacht gegen Polizeibeamte
       
       Sabine Berninger, Sprecherin für Flüchtlingspolitik und Mitglied im
       Justizausschuss des Thüringer Landtags, hat Fragen, die sie mit in den
       Justizausschuss nehmen will. „Der Mann hätte nach der Anordnung der
       Staatsanwaltschaft unmittelbar freigelassen werden müssen“, sagt sie.
       Berninger will wissen: Wurde der Mann über seine Rechte aufgeklärt? In
       welcher Sprache eigentlich? War ein Dolmetscher dabei? Und durfte er seine
       Medikamente nehmen? Sabine Berninger ist Mitglied einer Enquetekommission
       des Thüringer Landtages, die sich [1][mit institutionellem Rassismus]
       beschäftigt. Sie interessiert, ob mit dem 32-jährigen Algerier richtig
       umgegangen wurde.
       
       Aus Bundespolizeikreisen ist zu hören, der Fall nehme alle mit. Manche
       Beamte seien in Betreuung. Laut Staatsanwaltschaft wurden die Beamten, die
       in der Nacht im Dienst waren, bereits vernommen. Ihr vorläufiges Fazit: Es
       gebe „keinen Anfangsverdacht für ein strafrechtlich relevantes Handeln
       einzelner Beteiligter“.
       
       Mittwoch, der vierte Tag nach dem Tod des 32-Jährigen. Zurück zu dem Imbiss
       am Rande des Erfurter Bahnhofs, zurück an den Ort, wo der Verstorbene das
       letzte Mal eine Person war. Es ist heiß, der Andrang auf Bratwurst zur
       Mittagszeit trotzdem groß. Auch eine Imbissverkäuferin, die den Vorfall am
       vergangenen Freitag beobachtet hatte, ist da.
       
       Er habe irgendwie komisch gewirkt, sagt sie. War er öfter hier? Nein. Als
       er versucht habe zu klauen, habe ihn der Rucksackbesitzer sogleich erwischt
       und ihm „einen Arschtritt verpasst“. Dann seien die Polizisten
       dazugekommen. Was danach geschah, erzählt sie nicht, sie muss weiter.
       
       ## Schwierige Suche nach Antworten
       
       Bei laufenden Ermittlungen ist es schwierig, Informationen zu bekommen.
       Jetzt aber ermittelt die Kriminalpolizei gegen Bundespolizeibeamte. Sie
       müssen nach Einsätzen Berichte anfertigen. Aus Bundespolizeikreisen ist zu
       erfahren, was darin steht: Der 32-jährige Algerier habe Medikamente bei
       sich gehabt, knapp unter zehn verschiedene seien es gewesen. In dem
       Einsatzbericht von dem Abend ließen sich keinerlei Anhaltspunkte dafür
       finden, dass diese nicht zum Eigengebrauch gedacht waren. Aber auch keine
       Hinweise darauf, dass der Mann unter Drogeneinfluss stand. Das habe der
       hinzugezogene Notarzt bestätigt.
       
       Der Mann wirkte übermüdet, heißt es jetzt aus Polizeikreisen. Weil der
       32-jährige Algerier während der Befragung immer wieder eingeschlafen sei,
       hätten die Bundespolizisten ein beschleunigtes Verfahren bei der
       Staatsanwaltschaft beantragt. Doch die lehnte ab, ordnete die Freilassung
       an, mitten in der Nacht. Doch die Beamten hätten entschieden, ihn schlafen
       zu lassen. Zeitweise habe jemand vor seiner Zelle gesessen, um ihn zu
       beobachten. Manchmal hätten sie ihn kontrolliert, häufiger als
       vorgeschrieben. Sie vermerken, dass er schnarcht. Um 3.35 Uhr hätten die
       Beamten schließlich festgestellt, dass der Mann nicht mehr atmet. Sie
       beginnen, ihn zu reanimieren, rufen den Notarzt. Die Staatsanwaltschaft
       teilt hingegen in ihrer Pressemitteilung mit, das sei bereits um 3.15 Uhr
       geschehen.
       
       Christian Meinhold, ein Sprecher der Bundespolizei, sagt: „Bei uns arbeiten
       doch auch Menschen, die sagen, das wäre doch unmenschlich, ihn jetzt vor
       die Tür zu setzen.“ Und: „Angenommen, wir hätten ihn geweckt, mitten in der
       Nacht. Gesagt, raus, Hauptsache raus mit dir aus unserer Verantwortung, und
       dann wäre er gestorben – was wäre dann los gewesen?“
       
       Meinholds Sätze vermitteln, dass jedes Verhalten falsch gewesen wäre. Es
       gibt [2][institutionellen Rassismus innerhalb der Polizei]. Nun ist in
       diesem Fall tatsächlich etwas Fatales passiert. Ein Mensch ist tot.
       
       ## Wer sucht nach dem Menschen hinter dem Fall?
       
       Es gibt Widersprüche in diesem Fall, die sich derzeit nicht auflösen
       lassen. Und viele offene Fragen: Wusste der Mann, dass er hätte gehen
       können? War er eingeschlossen? Hatte er Zugriff auf die Medikamente, die er
       möglicherweise brauchte? Hätte er eine Überdosis nehmen können? Ihm sei
       etwas zur Verfügung gestellt worden, das für ihn nicht schädlich war, heißt
       es dazu vage von der Bundespolizei.
       
       Anruf bei der Staatsanwaltschaft am Freitag, Tag sechs nach dem Tod. Seine
       Medikamente waren ihm, als er in der Zelle war, nicht zugänglich, sagt
       Oberstaatsanwalt Hannes Grünseisen. Man könne ja niemanden mit einer Menge
       Medikamente allein lassen. Aber man habe ihn natürlich versorgt. Auf die
       Frage, wie seit der Befragung der Beamten ermittelt werde, verweist
       Grünseisen auf das toxikologische Ergebnis, das noch abgewartet werden
       müsse. Und sagt: „Oder sagen Sie doch mal: Was sollten wir denn stattdessen
       machen?“
       
       Ein Toter ohne Namen. Zu viele offene Fragen. Jemand müsste doch suchen
       nach dem Menschen hinter dem Fall?
       
       Auch beim Flüchtlingsrat fragt man sich, wer der 32-jährige Algerier war.
       Suchtberatungstellen, eine Beratungsstelle für Opfer von Rassismus, eine
       Organisation kritischer Geflüchteter – niemand kennt den Mann. In einer
       Pizzeria unweit des Bahnhofs arbeitet ein Mann aus Algerien. Seine Familie
       habe ihn angerufen, auch andere Algerier aus dem ganzen Land. Sie alle
       wollten wissen: Wer von uns ist da gestorben? „Aber ich kenne ihn nicht“,
       sagt er.
       
       26 Jul 2019
       
       ## LINKS
       
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   DIR [2] /Tote-Frau-in-Brandenburg/!5605627
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christina Schmidt
       
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