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       # taz.de -- Kollektive Arbeit: Sozialismus ohne Klassenkampf
       
       > Auf dem Wohnungsmarkt, in der Landwirtschaft, im Netz: überall
       > Kollektive. Wie daran gearbeitet wird, den Kapitalismus zu überwinden.
       
   IMG Bild: Markus Poland (links) und Juliette Lahaine (rechts) gründeten eine Solidarische Landwirtschaft
       
       Berlin/Klein Trebbow taz | Ein Innenhof, umsäumt von Backsteinbauten. Man
       hört Vogelgezwitscher, der Lärm Berlins scheint hier verbannt, dabei
       donnert die U-Bahn, oberirdisch, nur ein paar Meter entfernt die
       Schönhauser Allee entlang. Die Bremer Höhe, ein historisches
       Gebäudeensemble im Bezirk Prenzlauer Berg, ist das, wovon viele Großstädter
       träumen: sanierter Altbau, idyllisch und doch zentral. Und bezahlbar. Die
       Kaltmiete pro Quadratmeter liegt unter 6 Euro.
       
       Ulf Heitmann blickt aus seinem Bürofenster in den Innenhof und sagt: „All
       das würde heute längst einem Immobilienkonzern gehören.“
       
       Heitmann, ein nüchterner Jurist, und ein paar MitstreiterInnen bekamen 1999
       Wind davon, dass Berlin den Gebäudekomplex mit ein paar Hundert Wohnungen
       verkaufen wollte. Sie gründeten eine Genossenschaft und kauften die Bremer
       Höhe. Hätte damals die Deutsche Wohnen oder ein anderer Konzern zugegriffen
       – die Wohnungen wären wohl längst Eigentum von Gutverdienern, oder die
       Mieter müssten ein Vielfaches zahlen.
       
       Im Zentrum der Hauptstadt zu wohnen, zumal in angesagten Vierteln wie
       Kreuzberg oder Prenzlauer Berg, ist für die Mittelschicht, für LehrerInnen,
       Angestellte oder Krankenpfleger, kaum mehr möglich. In manchen Quartieren
       in Berlin-Mitte geben Mieter 48 Prozent ihres Einkommens fürs Wohnen aus.
       Die soziale Mischung verschwindet. Wer wenig Geld hat, wird an die
       Peripherie verdrängt.
       
       Wer in der Bremer Höhe leben will, braucht einen Wohnberechtigungsschein,
       das heißt, er muss ein geringes Einkommen nachweisen können. Wie lange
       müsste eine Familie mit zwei Kindern heute warten, um hier eine Wohnung zu
       bekommen? Heitmann schüttelt den Kopf. „Es wird mal eine Einraumwohnung im
       Erdgeschoss frei. Ansonsten keine Chance.“
       
       12 Prozent der Wohnungen in Berlin sind genossenschaftlich, zusammen mit
       den kommunalen Gesellschaften ist ein knappes Drittel der Eigentümer also
       nicht auf Rendite aus. Ohne Genossenschaften wäre der Wohnungsmarkt in der
       Hauptstadt noch irrer.
       
       ## Das Vertrauen in die Marktwirtschaft schwindet
       
       Die Preise sind explodiert, weil Berlin jedes Jahr um knapp 40.000 Menschen
       wächst: Mehr Nachfrage – die Marktlogik treibt die Mieten in die Höhe. Noch
       gravierender: Global ist, auch wegen der niedrigen Zinsen, extrem viel
       Kapital auf der Suche nach Anlagen. „Wir wirken als Mietpreisbremse“, sagt
       Heitmann. Manchmal, erzählt er, kommen Regierungsdelegationen aus Asien,
       Israel und Osteuropa in die Bremer Höhe und lassen sich erklären, wie die
       Genossenschaft funktioniert: ohne Profitstreben. „Minister aus Osteuropa
       halten Genossenschaften eher für ein Überbleibsel des Kommunismus.“
       
       Das Thema Eigentum, vor 15 Jahren noch etwas für Altlinke, ist wieder
       aktuell. Rot-Rot-Grün hat in Berlin einen Mietenstopp für fünf Jahre
       angeordnet. Eine Basisinitiative will per Volksentscheid gleich alle großen
       Wohnungsbaugesellschaften enteignen.
       
       Ist der Kapitalismus nicht in der Lage, das elementare Bedürfnis nach
       Wohnen zu befriedigen? Brauchen wir nicht ohnehin längst ein anderes
       Wirtschaftssystem?
       
       Eine Allensbach-Umfrage vom Januar 2019 ergab, dass das Vertrauen in die
       Marktwirtschaft schwindet. Auch im Digitalen scheinen die Märkte nicht zu
       funktionieren: Datenkonzerne wie Google und Facebook sind faktisch
       konkurrenzlos. In der Landwirtschaft hinterlässt die Ideologie des
       Immer-mehr kaputte Böden und Tiere.
       
       Ulf Heitmann ist skeptisch, was Enteignung auf dem Wohnungsmarkt betrifft.
       Sie wäre zu teuer. Allein die Deutsche Wohnen zu entschädigen würde bis zu
       36 Milliarden Euro kosten. Auch der generelle Mietenstopp überzeugt ihn
       nicht. Beim Treffen Mitte Juni liegen in seinem Büro ein paar Hundert
       Briefe – Mieterhöhungsbegehren, die er noch verschicken will, bevor der
       Mietenstopp gilt. Die Mieten in der Bremer Höhe sollen von 5,50 auf 5,65
       Euro steigen – das Geld braucht die Genossenschaft, um die Gebäude in
       Schuss zu halten.
       
       Der Erfolg des Mietenstopps, der für fünf Jahre gelten soll, wird auch
       davon abhängen, ob es Rot-Rot-Grün gelingt, Mieten einzufrieren, ohne
       Genossenschaften ungewollt in den Ruin zu treiben. Das zeigt, wie schwierig
       es ist, entfesselte Märkte wieder zu bändigen.
       
       ## Ohne radikale Lösungen geht es nicht
       
       Im Mai hat ein Interview des Juso-Chefs Kevin Kühnert für Aufregung
       gesorgt. Einige Jahre zuvor wäre Kühnerts Idee, BMW zu verstaatlichen, wohl
       kaum wahrgenommen worden. Doch seit die Mieten in den Metropolen
       explodieren, ist auch die Mittelschicht empfänglich für radikalere Ideen.
       
       „Die Debatte über Alternativen zum Kapitalismus wäre ohnehin gekommen“,
       sagt Annika Klose in einem Café im Berliner Wedding. Auf dem T-Shirt der
       Berliner Juso-Chefin steht „A strong woman never gives up“.
       
       Klose spricht durchdacht, präzise. Die höhnische Kritik von FDP, CSU und
       auch Sozialdemokraten wie Peer Steinbrück kümmert sie nicht. „Es ist nicht
       die Aufgabe einer linken Partei, Konservativen und Marktliberalen zu
       gefallen“, sagt sie. Klar müsse man begreifen, dass es „negative
       Erfahrungen mit den Alternativkonzepten zum Kapitalismus“ gibt. Aber mit
       dem gescheiterten autoritären Sozialismus à la DDR habe man nichts gemein.
       
       Klose glaubt: Unangenehme Wahrheiten hörten die Menschen immer noch lieber
       als die Lüge, dass alles in Ordnung sei. Und eine unangenehme Wahrheit
       laute eben: Ohne radikale Lösungen geht es nicht.
       
       Klose findet, dass Genossenschaften „Freiräume im Kapitalismus“ schaffen.
       Aber auch, dass das nicht reicht. Die Jusos arbeiten deshalb an dem
       „Projekt Sozialismus“, sie suchen nach Ideen, die über die kapitalistische
       Logik hinausweisen, und erkunden, das ist der Anspruch, wie der
       demokratische Sozialismus 2019 aussehen könnte.
       
       „Unser Ansatzpunkt ist die Demokratisierung aller Lebensbereiche, allen
       voran der Wirtschaft“, sagt Klose. Und: „Wir als Gesellschaft sollten
       demokratisch entscheiden dürfen, wie wir unsere ökologischen Ressourcen
       einsetzen.“
       
       Die Jusos wollen den Kapitalismus überwinden. Ein Hirngespinst? Sollte
       Kevin Kühnert als SPD-Vorsitzender kandidieren, bekäme das Projekt einen
       ganz neuen Stellenwert. „Kevin steht voll dahinter“, sagt Klose.
       
       ## Funktionieren Kollektive in allen Branchen?
       
       Nicht nur innerhalb der Parteien, überall in der Gesellschaft stellt man
       sich alte Fragen: Wie viel Kollektiv brauchen wir? Wie funktioniert
       Gemeinsinn in einer individualisierten Gesellschaft? Eine neue Frage kommt
       hinzu: Bietet die digitale Revolution die Chance, den Kapitalismus durch
       eine gerechtere Wirtschaftsform zu ersetzen?
       
       Der Soziologe Heinz Bude sagt: „Viele 20- bis 40-Jährigen haben erkannt,
       dass der Neoliberalismus eine existenzielle Lüge ist.“ Weil er die Illusion
       schüre, dass der Einzelne allein am stärksten sei. Bude hat kürzlich einen
       Essay über Solidarität verfasst und meist ein feines Gespür für politische
       Wetterwechsel. Was, glaubt er, kommt nun?
       
       „Die vergessene Solidarität kehrt als Monster in Form des Rechtspopulismus
       wieder. Die Idee, eine Schutzgemeinschaft zu bilden und füreinander
       einzustehen, wird von rechts besser gespielt als von links. Gegen dieses
       perverse Auftauchen der Solidarität braucht die Linke einen existenziellen
       anspruchsvollen Begriff von Solidarität.“
       
       Bude glaubt auch: „Es gibt bei den Millennials die Fähigkeit, den
       Sozialismus zu denken.“ Allerdings einen, der nicht viel mit dem
       Klassenkampf früherer Zeiten zu tun hat. „Die kompakte
       Arbeitnehmergesellschaft der Nachkriegszeit hat einer Gesellschaft der
       empfindsamen Selbstverwirklicher Platz gemacht, die nur noch sehr lose
       miteinander verbunden sind. Deshalb ist Solidarität nur durch das Nadelöhr
       des Ichs zu gewinnen.“ Zum Beispiel mit Genossenschaften – dem freiwilligen
       Zusammenschluss von Einzelnen zum Kollektiv.
       
       Tatsächlich sind Genossenschaften durchaus kraftvolle Alternativen zum –
       oder genauer im Kapitalismus. Der Bankensektor ist zu einem Drittel in den
       Händen von Genossenschaften. Sparkassen und Raiffeisenbanken und die
       Dachorganisation DZ-Bank haben die Finanzcrashs besser überstanden als die
       private Konkurrenz. Zudem existieren in Deutschland 2 Millionen
       Genossenschaftswohnungen. Die taz ist eine Genossenschaft. Warum gibt es
       dieses Modell nicht in allen Branchen?
       
       Sven Giegold, früher Attac-Sprecher und seit Langem grüner EU-Abgeordneter,
       sagt: „Genossenschaften sind weniger innovativ.“ In Genossenschaften gibt
       es keine Unternehmer und Arbeitnehmer, keine strikte Trennung von Kapital
       und Arbeit. Daher schlage das Bedürfnis der Arbeitenden nach Stabilität
       stärker durch – und das bremse das Gewinnstreben.
       
       ## Zweifel an den Grundlagen: Eigentum und Markt
       
       Genossenschaften seien deshalb in der Geschichte „in Branchen mit hohem
       Innovationsbedarf fast immer von der Konkurrenz vom Markt verdrängt
       worden“. Ausnahmen bestätigen die Regel: Zu der spanischen
       Megagenossenschaft Mondragón Corporación Cooperativa, bei der 75.000
       Beschäftigte arbeiten, gehören auch Maschinenbau und Automobilindustrie.
       
       Auf dem Wohnungsmarkt könne man „genossenschaftlich effektiv wirtschaften“,
       sagt Giegold, weil in der Branche eben nur eine große Innovation – der Bau
       – anfalle. Sein Fazit: „Wenn BMW und die anderen Autokonzerne
       Genossenschaften wären, würden die Elektroautos der Zukunft nicht in
       Deutschland produziert. Privatkapitalistische Unternehmen, die um die beste
       Innovation ringen, plus staatliche Rahmensetzung sind das stärkere Modell.“
       
       Vielen denken radikaler und stellen die Grundlagen des Kapitalismus
       infrage: Eigentum und Markt.
       
       Fast zwei Stunden braucht man für die 100 Kilometer von Berlin nach Klein
       Trebbow. Der Weg führt durch Dörfer, in denen Tempolimit 30 gilt. Oft fährt
       man hinter Traktoren. Dann ist da ein See, hingetupft wie ein blaugrauer
       Fleck auf einem grünen Gemälde. Juliette Lahaine hat hier mit Markus Poland
       vor anderthalb Jahren eine Solidarische Landwirtschaft gegründet.
       
       Poland hat konventionelle Landwirtschaft studiert und den kleinen Betrieb
       seines Vaters ausgebaut. Er hielt Rinder, Schweine, Schafe und Hühner,
       pachtete Land, produzierte Milch, Fleisch, Käse. Und stand dann vor der
       Entscheidung, vor der so viele Bauern irgendwann stehen: „Ich hätte mich
       spezialisieren müssen, um am Markt zu bestehen“, sagt er. „Die Vielfalt,
       die ich an meinem Beruf liebe, hätte ich damit verloren.“ Juliette Lahaine
       arbeitete anfangs als konventionelle Obstgärtnerin. „Ich habe viel gesehen,
       was nicht gut ist“, sagt sie und streicht sich mit etwas schmutzigen Händen
       die Haare aus dem Gesicht. „Viele Menschen haben den Bezug zur Natur
       verloren. Sie konsumieren Lebensmittel, ohne irgendetwas davon zu
       verstehen.“
       
       ## Einmal die Woche ist Verteiltag
       
       Poland lächelt, als hätte er gewusst, dass sie das sagen würde, und fügt
       hinzu: „Ich wollte nicht so ein Hippie-Ding, das ich mir unter
       Solidarischer Landwirtschaft vorgestellt habe.“ Manche hätten ihm
       abgeraten, weil sie glaubten, der Hof würde ohne einen Chef nicht laufen.
       Poland aber, mit einem guten Ruf und vielen Beziehungen im Dorf, hörte auf
       Lahaine. Heute sind beide gleichberechtigte Geschäftsführer des Vereins,
       mit dem sie ihre Solidarische Landwirtschaft betreiben.
       
       Das Prinzip: Ein Ökosystem ernährt die umliegende Gemeinschaft. Bei ihnen
       umfasst sie 30 Kilometer. Poland und Lahaine wirtschaften in drei Zweigen:
       Fleisch, Molkerei und Gartenbau. Mitglieder sind mindestens ein Jahr dabei,
       sie zahlen einen monatlichen Beitrag und erhalten dafür einen Ernteanteil.
       Die „Mitbauern“, wie sie hier genannt werden, können auf dem Hof helfen und
       mitentscheiden, was der Verein macht. Einmal pro Woche ist Verteiltag, an
       dem sie ihre Ernte abholen. Das Produktionsrisiko tragen alle gemeinsam.
       Überschüsse gehen an Restaurants in der Umgebung.
       
       Auf dem Weg zu den Freilandschweinen sagt Markus Poland: „Ich will, dass
       die Menschen ihr Essen von Anfang bis Ende in der Hand haben. Nichts wird
       besser, wenn es erst durch Deutschland oder halb Europa transportiert
       wird.“
       
       Poland und Lahaine glauben, dass die Umwelt in kleinen Ökosystemen
       funktioniert, die das große Ganze stabilisieren. Regionale Kreisläufe
       müssten also gefördert werden, Lebensmittel gehören nicht an die Börse.
       Kleine und mittelständische Unternehmen oder eben Kooperativen, die ihr
       Umfeld versorgen und nichts mit dem Weltmarkt zu tun haben – so stellen sie
       sich Landwirtschaft vor.
       
       Das Grundstück für den Ausbau des Hofs haben sie von der
       Kulturlandgenossenschaft bekommen. Die kauft Land aus
       privatwirtschaftlicher und oft spekulativer Nutzung und bringt es an
       Menschen, die ökologische Landwirtschaft betreiben wollen. Die Solidarische
       Landwirtschaft Klein Trebbow muss 360.000 Euro über Genossenschaftsanteile
       anwerben, noch fehlen 90.000. Trotzdem hat sie die 30 Hektar Land schon
       bekommen.
       
       Kann, was in Klein Trebbow funktioniert, auch global funktionieren? Ist
       Biolandwirtschaft produktiv genug, um die Menschheit zu ernähren?
       
       ## Homo oeconomicus oder Homo cooperativius
       
       Eine 2017 unter anderem von der Welternährungsorganisation erstellte Studie
       ergab: Das kann funktionieren. Ökologische Landwirtschaft wäre 2050
       durchaus in der Lage, mehr als 9 Milliarden Menschen zu ernähren.
       Vorausgesetzt, der Fleischkonsum würde sinken und die Flächen, die jetzt
       von Tieren genutzt werden, stünden frei.
       
       „Damit die Menschen anfangen, etwas zu verändern, müssen sie Alternativen
       kennenlernen“, sagt Juliette Lahaine. Alternativen wie die Solidarische
       Landwirtschaft.
       
       Der Überbegriff für solche Modelle sind die sogenannten Commons. Im
       Deutschen gibt es keine korrekte Übersetzung, „Gemeingut“ oder „Allmende“
       trift es nicht. Der Grundgedanke: Man entzieht dem Markt Boden, Arbeit,
       Wissen, aber auch weitere Ressourcen und schafft so ein Wirtschaften, bei
       dem es nicht nur um Wachstum und Effizienz geht.
       
       In der Welt der Commons handelt nicht der Homo oeconomicus als
       individueller Nutzenmaximierer, sondern der Homo cooperativius, der Mensch
       als soziales Beziehungswesen.
       
       Noch befinden sich die Commons im toten Winkel der öffentlichen
       Wahrnehmung. Wohl weil dieses Wirtschaften sehr kleinteilig und
       anspruchsvoll sein kann. Und weil das Konzept nicht in plakative Formeln
       passt. Es darf nicht mit der Sharing-Ökonomie verwechselt werden, die zwar
       von der Idee des Teilens inspiriert ist, aber, zumindest wenn sie
       kapitalistisch organisiert ist, das Gegenteil der Commons ist: Alles wird
       zur Ware, so wie die eigene Wohnung bei Airbnb – ein Triumph des Homo
       oeconomicus.
       
       Die Grundidee der Commons ist sehr alt – und in harter Realität erprobt.
       Das haben die Arbeiten der Politikwissenschaftlerin Elinor Ostrom gezeigt,
       die 2009 als erste Frau den Nobelpreis in Wirtschaftswissenschaften
       erhielt.
       
       ## Picknick-Ökonomie
       
       Ostrom analysierte weltweit mehr als 1.000 Beispiele gemeinschaftlicher
       Nutzung – in der Fischerei, bei der Bewässerung, in Wald- und
       Weidewirtschaft. Sie widerlegte das Vorurteil der
       Wirtschaftswissenschaften, dass Gemeingüter wegen der Neigung zur
       Übernutzung nichts taugen. Ihr Fazit: Weil die Menschen vor Ort selbst am
       besten wissen, was gut für sie ist, gibt es so viele funktionierende
       Beispiele. So existiert etwa die venezolanische Kooperative Cecosesola
       schon seit fast 50 Jahren – ein Netzwerk von etwa 60 Genossenschaften und
       Basisorganisationen mit 20.000 Mitgliedern. Sie versorgen sich und viele
       Großstadtbewohner*innen mit Lebensmitteln, betreiben ein
       Gesundheitszentrum, ein Beerdigungsinstitut und organisieren Kredite.
       
       Schon bevor Ostrom den Nobelpreis erhielt, las die Publizistin Silke
       Helfrich Ostroms Schriften. Ein Foto, das Helfrichs Elternhaus zeigt, zeigt
       auch die Grenze zwischen BRD und DDR. Auf der DDR-Seite wuchs Helfrich auf,
       sie sagt: „Ich kannte immer nur die Gegensätze, Ideologie gewordene
       Systeme: Kapitalismus versus Sozialismus, Privateigentum versus
       Volkseigentum. Da muss es doch noch mehr geben, habe ich gedacht.“ Heute
       ist Helfrich die Commons-Theoretikerin Deutschlands, hat mehrere Bücher
       geschrieben und ist überzeugt: „Commons verändern uns.“ Wer selbst erfahren
       habe, „dass es eine Ökonomie gibt, in der nicht alles vom Geldbeutel oder
       der eigenen Leistungsfähigkeit abhängt“, gewinne Sicherheit.
       
       Commons sind, global betrachtet, weder eine neue Hipster-Idee noch eine
       alte Hippie-Idee, sondern zentral für die Ernährung der Menschheit.
       Weltweit bewirtschaften bis zu 2,5 Milliarden Menschen rund 8 Milliarden
       Hektar Land in gemeinschaftlichen Strukturen – unabhängig von Monsanto und
       Nestlé. Taugen Commons auch für westliche Metropolen, für hoch
       arbeitsteilige und extrem produktive Gesellschaften? Oder sind sie dort,
       wie die Solidarische Landwirtschaft, doch nur Modellversuche, die in
       Nischen überlebensfähig sind?
       
       Am Tempelhofer Ufer in Berlin-Kreuzberg führen helle Flure in das Büro von
       Abraham Taherivand. In einem langen Regal schmiegen sich dicke Bücher
       aneinander – die Encyclopædia Britannica: Die Vergangenheit des globalen
       Wissens schaut hier gewissermaßen in ihre eigene Zukunft. Taherivand ist
       Geschäftsführer von Wikimedia Deutschland, einem Verein, der die deutsche
       Schreibommunity von Wikipedia fördert.
       
       „Was die Prinzipien angeht, funktionieren wir als Commons“, sagt
       Taherivand. Denn Wikipedia lebt von dem kollaborativen Zusammentragen von
       recherchierten und überprüften Informationen, die für alle frei zugänglich
       sind. Auf Deutsch gibt es mehr als 2 Millionen Artikel.
       
       Wissen wird, anders als eine Flasche Riesling oder ein Kuchen, bei Gebrauch
       nicht weniger. Je mehr Menschen sich an Wikipedia beteiligen, desto mehr
       Wissen entsteht, Fehler werden gefunden und korrigiert. Intern funktioniert
       Wikipedia nach einem einfachen Prinzip: Je aktiver man ist, desto mehr
       Rechte erhält man. Die Plattform ist, so der Anspruch, transparent. Wer
       will, kann exakt nachvollziehen, wie und von wem Texte geändert wurden.
       Dass es Konflikte gibt, gehört dazu. Commons-Expertin Silke Helfrich sagt:
       „Man darf sich die Commons-Welt nicht vorstellen wie ein Schlaraffenland,
       sondern wie ein Picknick, zu dem alle etwas beitragen.“
       
       ## Kapitalismus in der Nische
       
       Zehntausende schreiben und korrigieren Texte auf Wikipedia, ohne damit Geld
       oder symbolisches Kapital zu verdienen. Es steht noch nicht mal der Name
       des Autors über dem Text. Das Geben selbst ist der Lohn. Für den EU-Grünen
       Sven Giegold beweist Wikipedia deshalb die intellektuelle Beschränktheit
       des Neoliberalismus. Denn der könne schlicht nicht erklären, „warum
       Menschen etwas tun, wofür sie kein Geld bekommen, obwohl sie dies könnten“.
       .Als profitorientiertes Unternehmen hätte Wikipedia Schätzungen zufolge
       einen Jahresumsatz von 3 Milliarden Euro.
       
       Giegold sieht auch das pragmatisch. Man könne das Beispiel Wikipedia nicht
       verallgemeinern. Für die digitale Infrastruktur, ein schnelles, überall
       zugängliches Internet, braucht man extrem viel Geld. Das sei „nur mit
       staatlichen Großinvestitionen oder privatkapitalistischem Anreiz“ machbar.
       Ein Common wie Wikipedia könne „nie leisten“.
       
       Und doch beflügeln digitale Projekte wie Wikipedia den Traum, dass es mit
       dem Kapitalismus bald vorbei sein könnte. Auch weil sich digitales Wissen
       kostenlos reproduzieren lässt, sei es ein Popsong oder ein Betriebssystem.
       Wo das Angebot unendlich ist, fällt der Preis auf null. Der US-
       Wirtschaftswissenschaftler Jeremy Rifkin hat 2014 prognostiziert, dass die
       Zukunft deshalb den digitalen Commons gehören wird und der Kapitalismus nur
       in Nischen überlebt.
       
       Denn das Internet funktioniert kapitalistisch, es hebelt Marktgesetze aber
       auch aus. So konkurrieren Konzerne wie Google, Amazon und Facebook nicht
       wie im Industriekapitalismus auf Märkten mit anderen Unternehmen – sie
       besitzen vielmehr Märkte. Alternativen zu Monopolen wären auch hier
       Genossenschaften.
       
       In Datengenossenschaften, so die Idee, gehört die Plattform denen, die die
       Daten liefern – den Benutzern, uns allen. Ein Vorteil: Die Nutzer*innen
       können selbst kontrollieren, was mit ihren Daten passiert – und nicht bloß
       Häkchen bei den AGB machen.
       
       ## Utopie und Dystopie sind sich ganz nah
       
       Soziologe Heinz Bude sagt: „Der Kampf um die Daten ist die eigentliche
       Aufgabe eines renovierten Sozialismus.“ Es ist dringlicher,
       Datenmonopolisten zu entmachten als Wohnungskonzerne oder BMW.
       
       Das neue Interesse an Kollektiven sei, so Bude, ein Lebenszeichen der
       Gesellschaft. „Wir sind in Deutschland gerade in einer bedrückenden
       endzeitlichen Stimmung. Alles geht den Bach runter, aber niemand macht
       etwas. So ist es nicht. Das zeigen die Commons, die Genossenschaften und
       das neue Denken der Solidarität.“
       
       Wikimedia-Chef Taherivand sagt, Open Content, Open Data oder das freie
       Betriebssystem Linux seien Beispiele für ein anderes Wirtschaften. „Im
       Digitalen müssen einige Paradigmen aus dem Industriezeitalter einfach
       verschwinden.“ Selbst im Umgang mit Patenten ändern sich Grundprinzipien.
       „Jüngere Hersteller haben auch in der Autobranche längst den Schritt
       gewagt, ihre Patente zu veröffentlichen“, sagt Taherivand. Auch Elon Musk,
       Pionier für Elektroautos, hat das beim Tesla so gehandhabt. Geschadet hat
       es ihm nicht, zu einem antikapitalistisch wirtschaftenden Commoner hat es
       ihn allerdings auch nicht gemacht.
       
       In der digitalen Ökonomie sind sich Utopie und Dystopie ganz nah: die
       Alternativen zum ewigen Profitstreben und eine von Konzernen regierte
       Überwachungsgesellschaft.
       
       Common-Expertin Silke Helfrich sagt: „Wir können nicht zulassen, dass die
       produktivsten Mittel der Gegenwart, das Wissen und das Digitale, genauso in
       Besitz genommen werden wie früher Grund und Boden.“
       
       3 Aug 2019
       
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   DIR Theoretikerin Silke Helfrich ist tot: Immer auf unbekanntem Terrain
       
       Sie suchte nach Alternativen zu Markt und Staat. Die bekannte
       Commons-Theoretikerin Silke Helfrich ist bei einem Unfall ums Leben
       gekommen.
       
   DIR Neue Foodcoop in Bremen: Der Super-Supermarkt
       
       Eine Initiative will das Modell Foodcoop auf ein neues Level heben. Der
       Laden von Mitgliedern für Mitglieder soll größer und regelmäßig geöffnet
       sein.
       
   DIR Das Geschäftsmodell der taz: Ein Wunder
       
       Am 18. November 1991 entschied das Plenum: Die taz wird verkauft – an ihre
       LeserInnen. Wie die taz das moderne Crowdfunding erfand.
       
   DIR Autorin über solidarische Ökonomie: „Ein gutes Leben ohne Kapitalismus“
       
       Die Rote Flora veranstaltet einen Kongress zu Perspektiven der
       Selbstverwaltung. Elisabeth Voß über Widersprüche und die globale
       Perspektive.
       
   DIR Massenprodukt Huhn: Heißhunger auf Huhn
       
       Kein Tier ist so überzüchtet wie das Huhn. Es ist fett und billig. Aber
       warum wurde ausgerechnet das Huhn zum Ramschartikel in der Fleischtheke?
       
   DIR Steigende Mieten in Großstädten: Pseudovorbild Wien
       
       Wenn es ums Mieten geht, blicken viele Großstädte neidisch auf Wien. Ein
       Trugschluss, denn die Stadt privilegiert vor allem die Alteingesessenen.
       
   DIR Mietenwahnsinn in Berlin: Großereignis Wohnungssuche
       
       Eine Mietwohnung in Berlin zu finden, ist wie ein Lottogewinn. Für
       geflüchtete Menschen ist die Lage noch aussichtsloser.
       
   DIR Entwicklungssenatorin übers Wohnen: „Ich träume nicht von der DDR“
       
       Berlins linke Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher verteidigt den
       Mietendeckel des rot-rot-grünen Senats. Sie erklärt, warum er ein
       bundesweites Vorbild ist.
       
   DIR Junge SPDler stellen die Systemfrage: Der neue reflektierte Kapitalismus
       
       Wirtschaftliche Ungleichheit hat stark zugenommen. Da ist es kein Wunder,
       dass die Jusos linke Vorschläge machen. Die SPD sollte ihnen zuhören.
       
   DIR Berlin kauft 670 Wohnungen: Ein Beispiel, das Mut macht
       
       Der Ankauf Hunderter Wohnungen durch die Stadt Berlin ist ein Signal an
       Spekulanten: Ihr mögt gerissen sein, aber wir sind auch nicht blöd.