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       # taz.de -- Tötung am Hauptbahnhof in Frankfurt: Märchen von der „ganzen Wahrheit“
       
       > Nach der Tötung am Frankfurter Hauptbahnhof geht es wieder um die
       > Täterherkunft. Die AfD scheint zu diktieren, wie wir über Straftaten zu
       > reden haben.
       
   IMG Bild: Frankfurt trauert: Ein Achtjähriger wurde am vergangenen Montag vor einen Schnellzug gestoßen
       
       Es gibt Märchen, die sich Deutsche gern über ihre Heimat erzählen. Zum
       Beispiel: Alle Menschen hier haben dieselben Chancen auf Bildung und
       sozialen Aufstieg. Oder aber: Zuwanderer importieren Gewalt in dieses Land.
       
       Letzteres verkennt sowohl die Geschichte Deutschlands als auch die noch
       immer alltägliche Gewalt gegen Minderheiten. Und damit sind nicht nur die
       physischen Angriffe auf der Straße gegen People of Color gemeint. Sondern
       auch strukturelle, gesellschaftlich anerkannte Gewalt.
       
       „Symbolische Gewalt“ nennt sich bei Pierre Bourdieu die Summe von
       Unterdrückungsmechanismen, mit deren Hilfe soziale Hierarchien legitimiert
       werden. Das folgt nicht (immer) einem Kalkül. Was dagegen sehr bewusst
       passiert, ist die Verschleierung dieser Gewalt. Zum Beispiel, indem Märchen
       erzählt werden, welche Betroffene dieser Gewalt pauschal zum Täter
       stilisieren. Und wenn sich nur genügend Kompliz_innen finden, dieses
       Märchen weiterzuerzählen, so wirkt symbolische Gewalt umso effektiver –
       Machtverhältnisse verfestigen sich.
       
       Ein aktuelles Beispiel: Nach der schrecklichen [1][Tat letzte Woche am
       Frankfurter Hauptbahnhof], wo ein vermutlich psychisch erkrankter Mann ein
       achtjähriges Kind und dessen Mutter vor einen ICE stieß, wurde sehr schnell
       die Herkunft des Tatverdächtigen zum Thema gemacht. Er war 2006 aus Eritrea
       in die Schweiz geflüchtet, wo er bislang ein unauffälliges Leben mit seiner
       Familie führte. Es ist eigentlich eine rechte Methode, kriminelle Taten auf
       Herkunftsländer von Täter_innen zurückzuführen.
       
       ## Verzerrungspolitik und Herkunftsfetisch
       
       Gerade erst erschien eine [2][Studie] zweier Medienwissenschaftler_innen,
       welche analysiert, wie die AfD mit ihrer Pressearbeit systematisch Angst
       vor Zuwanderern schürt: „Während die AfD das Bild zulasten ausländischer
       Straftäter verzerre, werfe sie Medien gleichzeitig vor,
       Ausländerkriminalität zu unterschlagen (…).“ Die Wissenschaftler kommen zum
       umgekehrten Schluss: „Die größte Lücke liegt in der Wahrnehmung deutscher
       Tatverdächtiger.“
       
       Und doch gibt es Journalist_innen wie Ines Pohl, die sich selbst wohl alles
       andere als AfD-nah einordnen würden, gleichzeitig aber diese
       Verzerrungspolitik mit befeuern, indem sie dem Herkunftsfetisch der AfD
       Folge leisten. Die Deutsche-Welle-Chefredakteurin [3][kommentiert] noch am
       Tag der Tat, mit Bezug auf den Sommer 2015, dass die Nennung der „Herkunft
       zu jener ganzen Wahrheit gehört, der wir verpflichtet sind“.
       
       Was soll das bedeuten? Welche Wahrheit offenbart das Herkunftsland Eritrea,
       außer dass der Mann schwarz ist? Ist es nicht auch ein Märchen, dass die
       Hautfarbe für die Einordnung dieser Straftat von Bedeutung sei? Zur „ganzen
       Wahrheit“ gehört nämlich auch, dass diese Nennung vor allem härtere
       Abschiebegesetze, Racial Profiling und Ausbeutung von Menschen mit
       unsicherem Aufenthaltsstatus legitimiert. Dass es andere Formen von Gewalt
       weiter verschleiert.
       
       5 Aug 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Angriff-am-Hauptbahnhof-in-Frankfurt/!5613834
   DIR [2] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-08/afd-kriminalitaetsstatistik-medienwissenschaftler-zuwanderer
   DIR [3] https://www.dw.com/de/kommentar-welche-rolle-spielt-die-herkunft-eines-t%C3%A4ters/a-49793328
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Fatma Aydemir
       
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