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       # taz.de -- Zukunftsmodell Göttinger Stadtwald: Eine Wildnis mitten im Wald
       
       > Der Göttinger Stadtwald wird nachhaltig und ökologisch bewirtschaftet.
       > Einige Bereiche des Waldes bleiben sich selbst überlassen.
       
   IMG Bild: Nur einzelne Bäume werden im Göttinger Stadtwald entnommen. Dabei kommen auch Pferde zum Einsatz
       
       Göttingen taz | In der Nacht hat es etwas geregnet. Aber das Wasser ist
       schnell verdunstet und auf den Wegen im Göttinger Stadtwald zeigen Risse,
       wie trocken der Boden eigentlich ist. Nur Vogelgezwitscher ist zu hören,
       sonst herrscht Stille. Rechts und links vom Weg vermodern umgestürzte
       Bäume: Totholz, ein idealer Lebensraum für Pilze, Käfer und andere
       Kleintiere.
       
       Brutvögel finden Nistgelegenheiten in den Höhlen alter Stämme. Im Mulm, dem
       verfaulten und zu Pulver zerfallenen Holz, können sich Insektenlarven
       entwickeln – eine prall gefüllte Vorratskammer für Vögel und andere
       Insektenfresser. Zwischen den Stümpfen sind junge Triebe aus dem Erdreich
       geschossen. Eine Eule, die sich wohl gestört fühlt, fliegt auf und zieht
       mit lautlosem Flügelschlag durch die Baumkronen davon.
       
       „Hier bekommen Sie einen ganz guten Eindruck von unserem Konzept der
       naturnahen, ökologischen Waldbewirtschaftung“, sagt Lena Dzeia. Naturnahe,
       ökologische Waldbewirtschaftung klingt gut, aber was heißt das konkret?
       „Keine Kahlschläge, keine Pestizide, nur einzelne Bäume werden entnommen,
       und das möglichst schonend.“
       
       Dzeia leitet seit dem vergangenen September die Göttinger Forstverwaltung.
       Sie ist damit verantwortlich für den knapp 1.700 Hektar großen Stadtwald.
       Etwa 70 Prozent der Bäume dort sind Buchen, auf dem kalkhaltigen Boden
       wachsen außerdem Ahorne, Eschen, einige andere Laubbaum-Arten sowie ein
       paar Fichten und Lärchen. Mischwälder wie dieser gelten, anders als
       Monokulturen, als einigermaßen anpassungsfähig an den Klimawandel und seine
       Konsequenzen.
       
       Inmitten des bewaldeten Gebietes liegt das Kerstlingeröder Feld. Die 200
       Hektar große, schon vor rund 600 Jahren gerodete und später zeitweise als
       Truppenübungsplatz genutzte Freifläche gilt als Refugium für etliche
       geschützte Pflanzen-, Vogel- und Insektenarten. Mehr als 400 der 750 noch
       in Niedersachsen lebenden Schmetterlingsarten konnten Wissenschaftler hier
       nachweisen. Auf zwei abschüssigen Wiesen wachsen Orchideen.
       
       Das Kerstlingeröder Feld und der größte Teil des Stadtwaldes stehen unter
       Naturschutz. Drei Bereiche, insgesamt rund 100 Hektar groß, sind zudem als
       sogenannte Naturwald-Parzellen ausgewiesen. „Sie werden überhaupt nicht
       bewirtschaftet und vollständig der natürlichen Entwicklung überlassen“,
       erläutert Dzeia. Im Idealfall sollen hier wieder urwaldähnliche Strukturen
       entstehen. Eine Wildnis im Wald sozusagen.
       
       „Auch in den anderen Bereichen ernten wir nur einen Bruchteil von dem, was
       zuwächst“, sagt sie. „Und auch nur die stärksten Stämme.“ Einzelstammweise
       Holzernte – so heißt das im Forstjargon. Etwa 2,5 bis 3,5 Festmeter Holz
       entnehmen die Göttinger Förster jedes Jahr einem Hektar Stadtwald. Rund
       acht Festmeter wachsen in demselben Zeitraum nach. Zum Vergleich: Die
       Niedersächsischen Landesforsten und private Waldbesitzer ernten meistens
       bis zu 90 Prozent des Zuwachses.
       
       Wälder mit steigenden und hohen Holzvorräten sind Klimaschutzwälder. Werden
       die Vorräte durch Ernte massiv abgesenkt, gelangt ein Großteil des
       gespeicherten Kohlenstoffs zeitnah als klimaschädliches Kohlendioxid in die
       Atmosphäre. Denn in Deutschland wird das meiste geschlagene Holz zu
       kurzlebigen Produkten wie Papier verarbeitet, energetisch genutzt und
       dadurch innerhalb weniger Jahre wieder als CO2 in die Luft geblasen.
       
       „Note 1 – ein Modell mit Zukunft“, lobte Greenpeace schon 2013 den
       Göttinger Stadtwald: „Das Konzept sollte Schule machen.“ Forstchefin Dzeia
       ist da etwas zurückhaltender. „Im Moment passt unser Konzept gut in die
       Zeit“, sagt sie. Mit der nachhaltigen Waldbewirtschaftung gehe Göttingen
       einen spannenden Weg. Ob er als Vorbild für andere tauge, wolle sie aber
       nicht beurteilen: „Ich bin keine Missionarin“, sagt sie. Andererseits
       bedeutet eine geringe Ernte natürlich weniger Einnahmen aus dem
       Holzverkauf. „Die Stadt könnte eigentlich viel mehr Geld damit verdienen“,
       weiß Dzeia. „Vorrang für unsere Kommunalpolitiker haben aber Erholung und
       Naturschutz.“
       
       Füchse und Rehe lassen sich im Stadtwald in freier Wildbahn beobachten,
       auch Dachse und die scheuen Wildkatzen sind hier heimisch. Ebenso
       Fledermäuse und eher seltene Vogelarten wie der Neuntöter und der
       Wendehals, der Mittel- und der Grauspecht. Über dem Kerstlingeröder Feld
       kreisen Milane und Bussarde.
       
       Tausende Göttingerinnen und Göttinger sowie ihre Gäste nutzen den direkt
       vor den Stadttoren gelegenen Wald für Spaziergänge und zum Radfahren. Viele
       Besucher, das ergab schon eine Umfrage aus dem Jahr 2007, würden dafür
       sogar Eintritt zahlen.
       
       23 Jul 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Reimar Paul
       
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