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       # taz.de -- Klettern in der DDR: Über Grenzen gehen
       
       > Bernd Arnold gehörte zu den besten Kletterern der Welt. Sogar aus den USA
       > kamen Bergsteiger zu Besuch. 30 Jahre Mauerfall – die Serie zum
       > DDR-Sport.
       
   IMG Bild: Auch heute noch geht Arnold klettern, erst vor Kurzem mit seiner Enkelin
       
       Berlin taz Der DDR-Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht hatte einst den
       Spruch geprägt: „Jedermann an jedem Ort mehrmals in der Woche Sport.“ Neben
       dem von der Staatspartei SED hochgezüchteten, instrumentalisierten und
       [1][dopingverseuchten Leistungssport] mit seinen „Diplomaten im
       Trainingsanzug“ gab es in der DDR auch einen weitläufigen Rückzugsraum
       „Natur und Sport“. Diesen haben viele Menschen geschätzt. Dem grauen
       sozialistischen Alltag samt Ideologie und Eingemauertsein zu entfliehen,
       hieß die Devise vieler kreativer Individualisten.
       
       Bernd Arnold ist mit seinen 72 Jahren noch immer ungemein drahtig. Er ist
       der wohl bekannteste Kletterer der DDR, der nun schon seit über 60 Jahren
       am Fels aktiv ist. Wie zahlreiche weitere Bergfreunde hat er trotz des
       SED-Regimes damals besonders die individuelle Freiheit am Fels genossen.
       
       Geboren in Hohnstein im Elbsandsteingebirge, wo er bis heute wohnt, wurde
       ihm das Felsklettern regelrecht in die Wiege gelegt. Als Kind probierte er
       sich in spielerischer Form am Sandstein aus. Daraus wurde später eine
       Lebenspassion, die bis heute anhält. Über 900 Erstbegehungen im
       Elbsandsteingebirge stehen zu Buche.
       
       [2][Der Südtiroler Reinhold Messner] adelte ihn einmal so: „Bernd Arnold
       gehört zweifelsfrei zu den besten Kletterern der Welt.“ In den 70er und
       80er Jahren schraubte Arnold den Schwierigkeitsgrad im sächsischen
       Felsklettern immer weiter nach oben.
       
       ## Nichts für empfindliche Füße
       
       Die Sächsische Schweiz ist ohnehin die Wiege des Freikletterns. In seinem
       1999 erschienenen Buch „Zwischen Schneckenhaus und Dom“ schrieb Arnold
       unter anderem: „Um die Geborgenheit im engen und engsten Sandsteinraum
       wissend, war es mir bisher gelungen, das alltägliche Leben besser zu
       meistern und seine Widrigkeiten abzuwehren.“
       
       Legendär ist auch seine oft praktizierte Barfußkletterei: „Wenn man ein
       Stück weit schmerzunempfindlich ist, dann ist das von Vorteil. Man spürt
       den Fels mit den nackten Füßen einfach viel besser.“ Wer empfindliche Füße
       hat, kriegt das natürlich nicht hin. Aber klar ist auch, „dass die heutigen
       Gummisohlen der Kletterschuhe eine viel bessere Reibung als die eigene Haut
       haben“.
       
       Linda, eine Studentin aus Dresden und begeisterte Felserklimmerin, sagt:
       „Ganz klar, dass wir von der jüngeren Generation den Bernd als großen
       Vordenker sehen. Für mich persönlich ist sein Barfußklettern bis in höchste
       Schwierigkeitsgrade sehr beeindruckend. Aber es gibt natürlich auch noch
       andere ausgezeichnete Zeitgenossen wie zum Beispiel Gisbert Ludewig.“
       
       Arnold ist immer noch aktiv. Mit seiner Enkelin Johanna war er gerade auf
       Klettertour im heimischen Fels. Seine insgesamt vier Enkel sind sein ganzer
       Stolz. Ihnen hat er diese Form sportlicher Betätigung in der Natur
       natürlich auch beigebracht. „Wo hat man das schon wie hier im
       Elbsandsteingebirge bis hinüber nach Böhmen in Tschechien, [3][eine solch
       wunderschöne Natur], wo man auf engstem Raum verschiedenste Landschaften
       erleben kann.“ Klettern ist für Arnold „schon immer Lebensschule und ein
       Weg der Selbstfindung gewesen“.
       
       ## Hoher Besuch
       
       Bergsteiger aus dem Alpenraum, aber auch aus den USA kamen zu DDR-Zeiten
       ins Elbsandsteingebirge, um mit Arnold zu klettern und sich mit ihm auch zu
       messen. Einer der ersten war 1972 der Franzose Jean-Claude Droyer. Später
       kamen Kurt Albert und Wolfgang Güllich aus Westdeutschland. Sie brachten
       den ausgezeichneten Kletterern um Bernd Arnold, der damals nur im Ostblock
       Berge erklimmen durfte, gutes Material mit, wie ordentliche Seile und
       Sicherheitszubehör.
       
       Unzählige Einladungen von Bergsteigerfreunden aus dem Westen konnte er
       nicht annehmen, weil die DDR-Behörden dies ablehnten. Was ihn maßlos
       ärgerte und ihn sogar einen Protestbrief an Staatschef Erich Honecker
       schreiben ließ. Wie zahlreiche Stasidokumente belegen, wurde die
       DDR-Bergsteigerszene mit all ihren Individualisten argwöhnisch überwacht.
       
       Arnold, der damals als Buchdruckermeister in seiner eigenen kleinen
       Werkstatt arbeitete, kletterte und trainierte in jeder freien Minute, ohne
       staatliches Förderprogramm wie die DDR-Leistungssportler in ihren Klubs mit
       Rundumversorgung. Geräte, um die Muskeln zu trainieren, bauten sich Arnold
       und seine Kumpel selbst.
       
       Im Jahr 1984 reiste wegen seiner chronischen Flugangst der Staatschef der
       Kommunistischen Volksrepublik Nordkorea, [4][Kim Il Sung], mit dem Zug in
       die DDR und sah vom Fenster aus einige Kletterer in der Sächsischen
       Schweiz. Daraufhin lud er 1985 eine Bergsteigerdelegation aus der DDR,
       darunter auch Arnold, nach Nordkorea ein. Dort gelangen ihnen schwerste
       Klettereien im „Diamantgebirge“.
       
       ## Ein tiefer Sturz
       
       1986 durfte Arnold überraschend dann zumindest nach Griechenland reisen, zu
       einer Veranstaltung des Weltfriedensrats am Fuße des Olymp. Mit einem
       Kletterabstecher nach Meteora. Und 1987 zu einer Buchvorstellung von
       Wolfgang Güllich und Heinz Zak nach München, wo er unter anderen auch
       Reinhold Messner traf sowie die in den 1950er Jahren aus Sachsen in den
       Westen gegangenen Alpinisten Dietrich Hasse und Heinz Lothar Stutte.
       
       Und als er 1988, mit 41 Jahren auf dem Höhepunkt seines Klettervermögens,
       zu einem erfundenen Jubiläum eines Onkels eingeladen war, nutzte er den von
       den DDR-Behörden für nur wenige Tage genehmigten Aufenthalt im Westen zu
       einer ausgiebigen Expeditionsreise nach Pakistan in das Karakorum mit
       mehreren bundesdeutschen Bergsteigern, darunter auch Kurt Albert.
       
       Doch dort stürzte Arnold nach einigen erfolgreichen Gipfelbesteigungen in
       eine heimtückische Gletscherspalte. Mehrere Beckenfrakturen mit hohem
       Blutverlust waren die Folge. Akutes Nierenversagen kam dazu. Es bestand
       Lebensgefahr. Mit viel Glück gelangen die Rettung und der Rücktransport
       nach Deutschland in ein Münchener Klinikum, wo er wochenlang lag.
       
       Erst als er wieder halbwegs genesen war, kehrte er in die DDR zu Frau
       Christine und Tochter Heike zurück. „Ja, da bin ich damals dank der großen
       Hilfe meiner Bergkameraden dem Tod noch mal von der Schippe gesprungen“,
       reflektiert er die wohl schwierigste Phase in seinem Leben.
       
       ## Ost-West-Mischung
       
       Arnold hat in seinem Kletterleben wahrlich einiges überstanden. Seit
       einigen Jahren klettert er nun bewusster. Verschlissene Schultern,
       Ellenbogen sowie Becken- und Wirbelbrüche, 2018 eine Rückenoperation
       fordern ihren Tribut und schränken den Aktionsradius ein. Auch Arnold
       wird eben älter.
       
       In den Jahren nach dem Mauerfall und der damit verbundenen grenzenlosen
       Freiheit hat sich Arnold zahlreiche Bergträume erfüllt. Von den Alpen bis
       nach Patagonien.
       
       Der gelernte Buchdruckermeister mit der eigenen kleinen Werkstatt gründete
       nach 1989 zwei Bergsportartikelgeschäfte in Hohnstein und Bad Schandau und
       ist „in ausgewählter Form“ als Kletterexperte und Tourguide bis heute im
       heimischen Fels unterwegs. „Die Teilnehmer kommen je zur Hälfte aus Ost und
       West.“ „Bereichernd“ findet er dabei „die vielen menschlichen Kontakte und
       die zahlreichen daraus entstandenen Freundschaften“.
       
       Beim alljährlich stattfindenden und wegen der besonderen Atmosphäre
       einzigartigen „Bergsichten“-Festival in Dresden sagte Arnold im November
       2017 auf die Frage, was er sich persönlich wünschen würde in Bezug auf das
       Klettern: „Ich würde mir wünschen, dass das sächsische Felsklettern in
       seinen Ursprüngen erhalten bleibt, da komme ich her, das sind meine
       Wurzeln. Aber andererseits ist es natürlich so: Vor Veränderungen kann man
       sich nicht verschließen, und dem muss man sich auch stellen. Es wird in der
       Zukunft notwendig sein, auch wenn das für viele schwer einsehbar ist, dass
       Veränderungen stattfinden. Aber es wäre egoistisch, wenn man den anderen
       die Möglichkeit des Kletterns verwehren würde.“ Den Sächsischen
       Bergsteigerbund (SBB) sieht er da „auf einem guten Weg“.
       
       Der Hildesheimer Autor Peter Brunnert hat 2017 ein bemerkenswertes Buch
       über und mit Arnold veröffentlicht. Der Titel lautet „Ein Grenzgang“. Darin
       zeichnet Brunnert detailliert die spannenden Kletterabenteuer und das Leben
       von Arnold nach.
       
       Den Mauerfall beschreibt Arnold der taz gegenüber „als großes Geschenk und
       vor allem die Reisefreiheit als Teil der wiedererlangten Freiheit“. Fügt
       aber die Einschränkung an, „dass man zum Reisen besonders zu ferneren
       Zielen auch das nötige Kleingeld braucht“. Weil er sich über einige Dinge
       nach der Wiedervereinigung im Jahr 1990 geärgert habe, hat er einen
       Kletterweg mit dem Namen „Deutsch-deutsche Vereinnahmung“ versehen. Ein
       kritischer Geist ist Arnold eben bis heute geblieben.
       
       29 Jul 2019
       
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