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       # taz.de -- Bloggerin Marie Sophie Hingst gestorben: Der Mensch hinter der Story
       
       > Die Historikerin fälschte Holocaust-Schicksale. Nun ist sie gestorben.
       > Und am „Spiegel“, der ihren Betrug aufdeckte, regt sich Kritik. Zu Recht?
       
   IMG Bild: Marie Sophie Hingst bei der Preisverleihung des „Goldenen Blogger“, 2018
       
       Um es gleich vorweg zu unterstreichen: Wie [1][Marie Sophie Hingst] zu Tode
       gekommen ist, ist ungeklärt. Die Information über ihr Ableben kommt von
       einem Reporter der Irish Times, der in Berlin lebt und regelmäßig Kontakt
       zu ihrer Mutter pflegte. Über diesen Weg wissen wir auch, dass es offenbar
       zu keinen äußeren Einwirkungen gekommen ist. Wer die Geschichte um die
       Hochstaplerin verfolgt hat, mag da Selbsttötung vermuten. Aber geklärt ist
       da nichts.
       
       Die Historikerin und Bloggerin, die jahrelang Holocaust-Schicksale erfand
       und auch selbst fälschlich als Jüdin und Enkelin einer Überlebenden
       auftrat, litt offenbar unter psychischen Problemen. Spiegel-Journalist
       Martin Doerry hatte den Betrug schonungslos aufgedeckt. Hätte der Spiegel
       sensibler mit einer erkrankten Person umgehen sollen?
       
       Die irische Zeitung berichtete am Samstag vom Tod Hingsts in Dublin. Autor
       Derek Scally, der im Fall Hingst offenbar länger intensiv recherchiert und
       auch nach der Spiegel-Enthüllung mit Hingst gesprochen hat, beleuchtet den
       Fall. Scally zitiert auch die Mutter der verstorbenen mit einem schweren
       Vorwurf gegen Spiegel-Autor Doerry. Doerry habe versäumt, die Person hinter
       den Fakten zu sehen.
       
       Marie Sophie Hingst, eine in Dublin am renommierten Trinity College
       promovierte deutsche Historikerin, hatte über Jahre gefälschte
       Gedenkblätter an die [2][Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem] geschickt, wie
       Doerry im Mai im Spiegel überzeugend dargelegt hat. Insgesamt 22 Schicksale
       hatte sie erfunden. Auch ihre eigene Herkunft hatte Hingst konstruiert,
       eine Überlebende als Großmutter erschwindelt. Ihre Storys wurden unter
       anderem in ARD-Sendern als Fakten berichtet. Hingst betrieb mit ihren
       Geschichten ein erfolgreiches Blog, erhielt dafür einen
       Blogger*innen-Preis, der ihr nach der Spiegel-Recherche aberkannt wurde.
       
       ## Der Mensch hinter der Hochstaplerin
       
       Hingst drohte im Anschluss mit rechtlichen Schritten, versuchte zeitweise
       die Echtheit ihrer Geschichten zu belegen, behauptete dann wieder, jemand
       gebe sich als sie aus und berief sich schließlich auf den literarischen
       Charakter ihres Blogs. Irish Times-Reporter Scally zitiert sie mit den
       Worten, sie habe sich gefühlt, als würde sie vom Spiegel „lebendig
       gehäutet“.
       
       Der Spiegel-Verlag will [3][den Doerry-Text] nicht weiter kommentieren und
       „bedauert“ Hingsts Tod. In der eigenen Nachricht über ihr Ableben schreibt
       das Hamburger Magazin knapp: „Die sachliche Richtigkeit der in dem
       Spiegel-Artikel beschriebenen Tatsachen ist unumstritten.“ Redakteur Felix
       Bohr verteidigte seinen Kollegen derweil auf Twitter gegen Kritik. Es sei
       „infam“, Doerry verantwortungsloses Verhalten vorzuwerfen.
       
       Richtig ist, dass Journalist*innen bei der Möglichkeit einer guten Story
       gelegentlich zu reflektieren vergessen, was sie im Leben derer auslösen,
       über die sie berichten. Hat Doerry also versäumt sich zu fragen, ob eine
       schwerwiegende psychische Erkrankung mit den Erfindungen der Marie Sophie
       Hingst zu tun haben könnte? Hat er, wie die Mutter sagt, den Mensch hinter
       der Geschichte nicht mehr gesehen?
       
       Viel eher ist es genau andersherum. Viel eher gibt es ein Zu-Viel von dem
       Mensch Sophie Hingst in dem Spiegel-Text, im Report der Irish Times und in
       der Debatte um den Fall. Doerry versucht – obgleich wohldosiert zwischen
       der sachlichen Recherchearbeit – der Person Sophie Hingst auf den Grund zu
       gehen. Da heißt es im typischen Beschau-Absatz, sie wirke „mädchenhaft“,
       und: „Eitelkeit scheint ihr fremd“. Irish Times-Autor Scally geht noch
       weiter und fertigt [4][in seinem Text], verfasst nach Hingsts Tod, beinahe
       ein Psychogramm an. Da changiert ihre Stimme zwischen „mädchenhaftem,
       spielerischem“ Ton und dem Modus „wütende Erwachsene“, da flattern die
       Hände im Schoß „wie zwei rastlose Vögel“.
       
       ## Der Skandal spielt woanders
       
       Klar, Hingst, die Holocaust-Hochstaplerin, ist ein Faszinosum. Wie konnte
       sie? Und nun: Was hatte sie? Aber der Skandal spielt eigentlich ganz
       woanders. Er liegt in der erschütternden Erkenntnis, dass sich
       Holocaust-Geschichte recht einfach fälschen lässt. Dass die fabrizierten
       Erinnerungen bei allen beteiligten Institutionen jahrelang unhinterfragt
       durchgekommen sind. Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, bei der
       Bloggerszene und bis hin zur Gedenkstätte Yad Vashem, die Einsendungen im
       guten Glauben annimmt. All diese Institutionen schaffen Wahrheit. In diesem
       Fall stützten sie gegenseitig eine Lüge. Für die Erinnerungskultur ist das
       eine Katastrophe.
       
       Es wäre keine Option gewesen, weder für Doerry noch für irgendwen, eine
       Berichterstattung über all das einfach zu unterlassen. Die Hauptverdächtige
       dabei aus Rücksicht aus dieser Geschichte herauszuhalten, war wiederum auch
       nicht möglich. Sie stand ja mit ihren Geschichten in der Öffentlichkeit.
       
       Was hingegen Marie Sophie Hingst psychisch gequält hat, und auf welche
       Weise sie nun ums Leben gekommen ist, das geht uns nichts mehr an. Die
       Geschichte muss ab sofort woanders spielen. Marie Sophie Hingst soll in
       Frieden ruhen können.
       
       Hinweis: Wenn Sie Suizidgedanken haben, sprechen Sie darüber mit jemandem.
       Sie können sich rund um die Uhr an die Telefonseelsorge wenden (08 00/111 0
       111 oder 08 00/111 0 222) oder [5][telefonseelsorge.de] besuchen.
       
       28 Jul 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Faelschungen-einer-Bloggerin/!5596689
   DIR [2] /Erinnerungskultur-bei-Instagram/!5592218
   DIR [3] https://www.spiegel.de/plus/marie-sophie-hingst-die-historikerin-die-22-holocaust-opfer-erfunden-hat-a-00000000-0002-0001-0000-000164179841
   DIR [4] https://www.irishtimes.com/news/world/europe/the-life-and-tragic-death-of-trinity-graduate-and-writer-sophie-hingst-1.3967259
   DIR [5] https://www.telefonseelsorge.de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Peter Weissenburger
       
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