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       # taz.de -- Neue Ausstellung über das Wohnen: Zwischen Mietkampf und Museum
       
       > Das Friedrichshain-Kreuzberg Museum zeigt mit der neuen Ausstellung „Dach
       > über Kopf“ eine Geschichte der Häuserkämpfe von 1863 bis heute.
       
   IMG Bild: Umzug in Berlin 1901
       
       Das Elend war unübersehbar. Weltwirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit
       hatten viele an den Rand der Existenz gebracht. Die Vermieter nutzten die
       Zwangslage schamlos aus. Doch dann passierte, womit niemand gerechnet
       hatten. Unterstützt von der KPD traten Berliner Mieterinnen und Mieter im
       August 1932 in einen Streik. „Erst das Essen, dann die Miete“, lautete die
       Parole.
       
       Es ist eine der ersten Massenaktionen der Berliner Mieterbewegung. Randale
       und Krawalle hatte es zwar schon seit der Gründung des Deutschen Reichs
       gegeben. In den Moritzplatz- und Blumenstraßenkrawallen (1863 und 1872)
       wehrten sich die Betroffenen massiv gegen Zwangsräumungen. Doch ein
       organisierter Mieterstreik war neu.
       
       Vor allem in der Gegend um die Swinemünder Straße traten ganze Häuser in
       den Ausstand. Die KPD-Zeitung Rote Fahne schrieb: „Jeden Tag schließen sich
       neue Häuser dem Kampf gegen die hohen Mieten an. In den Amtsgerichten
       herrscht Hochbetrieb. Aber dieser Hochbetrieb wird bei weitem von dem
       übertroffen, der auf der Straße herrscht, wenn ein erwerbsloser Prolet
       exmittiert werden soll. In der zweiten Septemberhälfte wurden in Berlin
       nicht weniger als 300 Exmittierungen infolge des Protests der werktätigen
       Bewohner zurückgenommen.“
       
       „Dach über Kopf“ heißt die neue Ausstellung im Friedrichshain-Kreuzberg
       Museum, und der Berliner Mieterstreik ist eines der Ereignisse, an denen
       die Geschichte des Wohnens im Bezirk erzählt wird. „Das Verbindende im
       Bezirk ist das Kämpfen um den Wohnraum“, sagt Museumsleiterin Natalie Bayer
       bei einer Vorabbesichtigung am Dienstag. Weil sich die Dauerausstellung
       „Geschichte wird gemacht“ vor allem um den Kampf gegen die
       Kahlschlagsanierung in Kreuzberg dreht, wird mit „Dach über Kopf“ auch der
       Bogen nach Friedrichshain und zu den Wohnkämpfen in der DDR geschlagen.
       
       Den Titel der Ausstellung, erklärt die 1989 geborene Kuratorin Natalie
       Maier, könne man sich getrost mit dem Ausrufezeichen vorstellen – also als
       Forderung. Aber auch die Not vieler Mieterinnen und Mieter sei darin
       enthalten, „etwa wenn sie Hals über Kopf eine Wohnung verlassen müssen“.
       Insgesamt hat Maier die Ausstellung an vier Themen entlang erzählt:
       widerständig wohnen, krank wohnen, gemeinsam wohnen und visionär wohnen.
       
       „Zum widerständigen Wohnen gehörten nicht nur die Krawalle in der
       Blumenstraße oder der Mietstreik 1932, dem sich auf dem Höhepunkt 3.000
       Häuser angeschlossen hatten, sondern auch die stillen Besetzungen in der
       DDR“, so Maier.
       
       Einer der stillen Besetzer war Uwe Kulisch. In der Rigaer Straße 76 hatte
       Kulisch 1986 eine Wohnung besetzt und mit seiner Freundin zu einer
       Werkstatt für Siebdruck ausgebaut. Unter anderem hat er dort ein Plakat mit
       dem Titel „Autonomie und Solidarität“ gedruckt, das nun im Museum
       ausgestellt ist. Weitere Wohnungen hat Kulisch in der Mattern- und
       Mühsamstraße besetzt.
       
       „Kulisch hat in Friedrichshain ein Konzept der offenen Wohnungen
       propagiert“, sagt Kuratorin Baier. Das hat auch die Stasi auf den Plan
       gerufen. Mehrfach wurden Kulischs Wohnungen geräumt.
       
       Einen Schwerpunkt in der Ausstellung bildet die Karl-Marx-Allee. Sie ist
       Ort des Visionären und Widerständigen zugleich. Gebaut als Straße der
       „Arbeiterpaläste“ wurde die damalige Stalinallee freilich auch zum Wohnort
       der SED-Funktionäre. Die wiederum mussten am 17. Juni 1953 erleben, dass
       die Arbeiter anders tickten als ihre Führung. Nach der Wende verkauft,
       erlebte die Karl-Marx-Allee in jüngster Zeit eine Welle der Proteste.
       
       Zwei Plakate der Demonstrationen gegen den geplanten Kauf an die Deutsche
       Wohnen hängen in der Ausstellung, auf einem steht: „Marx würde heulen“.
       Inzwischen ist der Verkauf gestoppt und die Wohnungen gehen an die
       landeseigene Gewobag. „So schlägt sich der Bogen des Widerstands in
       Kreuzberg und Friedrichshain über einen Zeitraum von 150 Jahren bis in die
       Gegenwart“, resümiert Kuratorin Natalie Maier.
       
       Aber kann man das widerspenstige Kreuzberg und Friedrichshain damals und
       heute wirklich miteinander vergleichen? Der Mietstreik 1932 jedenfalls war
       nur bedingt erfolgreich. Zwar verzichteten einige Vermieter, darunter auch
       städtische Gesellschaften, auf Zwangsräumungen und das Eintreiben von
       Mietrückständen. Zu einer Mietrechtsreform kam es aber nicht in den letzten
       Monaten der Weimarer Republik. Mit dem Machtantritt der Nazis brach der
       Streik zusammen.
       
       Weitaus optimistischer sieht Museumschefin Natalie Bayer die jüngsten
       Mietkämpfe. „Aus den neuen Initiativen hat sich eine neue Vision ergeben,
       das ist die Rekommunalisierung“, so Bayer.
       
       Die neue Bewegung steht auch im Zentrum der Ausstellungsarchitektur. Die
       Besucherinnen und Besucher befinden sich unter einer Konstruktion von
       Regalsystemen, ein Nachbau des „Gecekondu“ am Kotti, das den Namen
       „Gecedinx“ bekommen hat. „Einen Ort der Begegnung“ nennt das Bayer. Und wer
       davon nicht genug hat, kann in der Museumsdruckerei gleich eigene
       Protestplakate drucken lassen. Wie immer verschwinden im FHXB-Museum die
       Grenzen zwischen Musealisierung und Aktivismus.
       
       7 Aug 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Uwe Rada
       
       ## TAGS
       
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