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       # taz.de -- debatte: Die Revolution war real
       
       > Wer glaubt, die DDR wäre auch ohne die Opposition zusammengebrochen, ist
       > historisch ahnungslos. Eine Antwort auf Udo Knapps „Mythos Revolution“
       
       Pünktlich zum Revolutionsjubiläum ist ein Kampf um die Deutungshoheit
       entbrannt. Im Herbst jährt sich der 30. Jahrestag der ostdeutschen
       Revolution. Der Symboltag ist der 9. Oktober. An diesem Tag zogen über
       70.000 Menschen um den Leipziger Ring. Die SED-Staatsmacht griff nicht ein,
       das von vielen befürchtete Massaker blieb aus. Noch Tage zuvor hatten
       hochrangige SED-Funktionäre erneut ihren chinesischen Amtskollegen ihre
       Bewunderung für deren Umgang mit Oppositionellen öffentlich bezeugt – die
       hatten Anfang Juni 1989 Hunderte Bürgerrechtler niedermetzeln lassen. Die
       SED-Führungsriege kapitulierte nun angesichts der unerwarteten
       Menschenmassen in Leipzig. Revolutionen gewinnen nie gegen eine starke
       Herrschaft.
       
       Zu den Umdeutern der Revolution gehört zum einen die Linkspartei, die Crew
       um Gregor Gysi. Sie versucht einzuflüstern, sie wäre selbst ein Motor der
       „Wende“, wie sie die Revolution nennt, gewesen. Gysi erzählt, seine Partei
       hätte die Mauer geöffnet, und die SED, dessen letzter Vorsitzender er war,
       hätte ganz und gar freiwillig für die Friedlichkeit der Revolution gesorgt.
       Wahrscheinlich glaubt nicht einmal Gysi selbst an dieses Märchen. Aber ihm
       geht es um etwas anderes, nämlich darum, historische Glaubwürdigkeit zu
       behalten, um sich und seine Partei als diejenigen hinzustellen, die vor den
       dramatischen sozialen, kulturellen und politischen Folgen gewarnt hätten.
       Das zu behaupten funktioniert nur, wenn Gysis Partei nicht als das
       wahrgenommen wird, was sie historisch war: die Hauptverantwortliche für die
       Katastrophe im Osten mit ihrer 40-jährigen Diktatur.
       
       Von rechts außen gibt es seit Längerem ebenfalls Vereinnahmungsversuche der
       Revolution. Wer gegenwärtig durch Brandenburg fährt, wird allerorten
       Wahlplakate der AfD sehen, die dazu auffordern „Vollende die Wende“ oder
       vor einer „DDR 2.0“ warnen. Höcke verkündete, „wir“ hätten doch nicht die
       Revolution 1989 gemacht, um nun in „so was“ leben zu müssen. Gauland
       spricht davon, wie 1989 würden nun wieder „Bürgerrechtler“, er meint seine
       Anhänger, verfolgt und verprügelt. So plump sich das auch anhört – es
       verfängt durchaus. Nicht nur im Osten glauben viele Menschen, die
       Verhältnisse heute gleichen denen in der Spätphase der DDR. Die das
       glauben, haben meist entweder in der DDR nicht gelebt, wie Höcke und
       Gauland, oder haben 1989 hinter der Gardine beobachtet, was sich auf der
       Straße zutrug. Aber selbst ihnen müssten doch die Unterschiede ins Auge
       springen: In der DDR säßen sie alle längst in Bautzen oder Cottbus, und
       keine Zeitung würde über sie berichten.
       
       Aber auch in der Mitte der Gesellschaft tobt ein Kampf um die Deutung der
       Revolution. [1][Udo Knapp hat diese Debatte am 30. Juli hier in der taz]
       auf den Punkt gebracht: Es war erstens keine Revolution, und zweitens war
       der Zusammenbruch „nicht die Folge der so mutigen Großdemonstrationen in
       Leipzig und anderswo“.
       
       Ich verstehe viele linke Westler, die ihren Phantomschmerz bis heute nicht
       beherrscht bekommen. Jahrelang träumten sie von einer Revolution: in ihrer
       „BRD“, in Nicaragua, sonst wo auf der Welt – und dann brach sie direkt vor
       der ungeliebten Haustür aus. Wie hätten sie auch darauf kommen sollen? Das
       Schmuddelkind DDR war ihnen so unsympathisch, dass sie nicht einmal den
       Blick vor die Haustür warfen, um zu schauen, um was für einen Dreck es sich
       da handelt. Wer keine Diktatur erkannte, konnte auch nicht mit einem
       Aufstand rechnen. Nicht die einstige Fehlwahrnehmung wird korrigiert,
       sondern einfach fortgeschrieben. Hier treffen sich so manche Westlinke und
       ostdeutsche Systemloyalisten übrigens, da Letztere ihre fehlende
       Systemopposition heute mit ganz ähnlichen historischen Konstruktionen
       „wissenschaftlich“ zu kompensieren suchen.
       
       Tatsächlich hat die Forschung schon längst gezeigt, dass es nicht die eine
       Ursache für die ostdeutsche Revolution gab. Das System war marode, die
       Wirtschaft am Ende, die politischen Eliten waren handlungsunfähig. Das
       SED-Regime brach aber nicht allein zusammen. Dazu bedurfte es aktiver
       Menschen. Die einen gingen weg, flüchteten. Sie trugen erheblich zur
       Systemdestabilisierung bei. Die Opposition rief in Reaktion auf die
       Ausreisebewegung trotzig und drohend: „Wir bleiben hier!“ Die meisten
       Menschen aber blieben hinter der Gardine und warteten ab. Sie waren dann
       später die Beschenkten: Sie erhielten Demokratie, Freiheit und
       Rechtsstaatlichkeit ohne eigenes Zutun.
       
       Das am 9./10. September 1989 gegründete „Neue Forum“ bot mit den anderen
       neuen Bürgerbewegungen erstmals einen Ort der öffentlichen Verständigung.
       Binnen wenigen Wochen bis Anfang Oktober nutzten Tausende Menschen unter
       hohem persönlichen Risiko diese Chance. Die DDR veränderte sich von unten.
       Die Menschen sind nicht zufällig auf die Straße gekommen. Diejenigen, die
       die Leipziger Montagsdemonstrationen als Proteste aus der Kirche in die
       Gesellschaft trugen, waren Oppositionelle, die sich Jahre vor 1989 in
       Leipzig organisiert hatten. Ohne ihre Idee, nach dem Montagsgebet auf die
       Straße zu gehen, hätte es die berühmten Montagsdemonstrationen nicht
       gegeben. Niemand behauptet, die Bürgerrechtsbewegung habe allein die
       Revolution gemacht. Aber für eine Revolution braucht es Sammelbecken für
       Gleichgesinnte.
       
       Was wir wissen, ist nicht nur, dass die Opposition entscheidenden Anteil
       hatte. Wir wissen auch, dass der Kommunismus nirgendwo einfach so
       verschwand, nicht einmal in Rumänien oder Bulgarien. Und Kuba ist ähnlich
       abgewirtschaftet wie die DDR, aber die Diktatur verschwindet nicht. Und
       Nordkorea ist ein noch drastischeres Beispiel. Dort wiederum ist der Staat
       noch so stark, dass zurzeit kein Systemsturz in Sicht ist. Sollte der Staat
       dort aber wanken, so lehrt es die Geschichte, wird die Revolution auch in
       Nordkorea ohne den ansteckenden Mut weniger, wie in der DDR, nicht möglich
       sein, um die vielen zum Aufstand zu motivieren.
       
       9 Aug 2019
       
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