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       # taz.de -- Politische Unzufriedenheit in Russland: „Der Krim-Konsens hält nicht mehr“
       
       > Die Proteste in Moskau sind Ausdruck eines neuen politischen Bewusstseins
       > in Russland, sagt Exminister Michail Dmitriew
       
   IMG Bild: Demonstranten in Moskau: Das Vertrauen zu allen Politikern ist sehr niedrig
       
       taz: Herr Dmitriew, Sie haben ausführliche Untersuchungen zur Veränderung
       der politischen Stimmungslage in Russland durchgeführt. Wie hat sich das
       Massenbewusstsein in den letzten anderthalb Jahren verändert? 
       
       Michail Dmitriew: Vergangenes Jahr beherrschten noch materielle Probleme
       die Agenda. Jetzt sind es postmaterielle Werte, vor allem persönliche und
       politische Freiheiten. Vor 15, 20 Jahren verstanden die Menschen darunter
       noch, sich mit „Business“ zu beschäftigen und ins Ausland zu reisen. Heute
       geht es um politische Freiheiten und Menschenrechte. Es wächst die
       Forderung, die Politik möge demokratische Rechte einhalten und den Bürger
       achten. In unserer Untersuchung tauchte das erstmals im Herbst 2018 auf und
       hat sich im Frühjahr deutlich verstärkt. Vor einem Jahr wurde auch die
       aggressive Außenpolitik fast von allen Teilnehmern der landesweiten
       Focus-Gruppen noch unterstützt. Heute soll Außenpolitik auf maximaler
       Kooperation mit anderen Ländern fußen und konfliktfrei verlaufen.
       Dergleichen haben wir vorher noch nicht beobachtet.
       
       Das sind einschneidende Richtungsänderungen… 
       
       Wir nehmen auch wachsende Aggressivität wahr. Viele empfinden gegenüber den
       Politikern negative Emotionen, sogar Scham.
       
       Was ist der Grund für so plötzliche Veränderungen? 
       
       Für Russland ist das keine Seltenheit. Das Massenbewusstsein ändert sich
       sprunghaft. Bei den Protesten 2011/2012 war das ähnlich. Diesmal hatte sich
       das Bewusstsein vier Jahre lang nicht verändert. Das lag am sogenannten
       Krim-Konsens, den die Mehrheit der Bevölkerung nach 2014 akzeptierte.
       Dahinter verbarg sich eine sehr begrenzte Auswahl an politischen
       Prioritäten: Russland als Großmacht, imperiale Ambitionen, zentrale
       Bedeutung religiöser Gefühle. Das ist nicht mehr länger haltbar. Vier Jahre
       lang dominierte das Gefühl, Russland werde von außen und durch Konflikte
       mit dem Westen bedroht. Aber die Themenbreite des Krim-Konsenses war zu
       eng. Wirtschaftliche Entwicklung, Lebensstandard und Selbstverwirklichung
       spielten in dem Kontext keine Rolle, auch Demokratie und Teilhabe wurden
       nicht beachtet. Es haben sich jedoch entscheidende Dinge in der
       Gesellschaft geändert: Zum ersten Mal im 21. Jahrhundert sank der
       Lebensstandard stärker als die Produktion. Bis dahin wurde hauptsächlich
       die Wirtschaft in Mitleidenschaft gezogen und nicht die Bevölkerung. Jetzt
       ging das BIP um 2,5 Prozent zurück, die Einkommen sanken gar um 7 Prozent.
       Das spüren die Menschen.
       
       Daraus resultiert politische Unzufriedenheit? 
       
       Die Bürger sind es leid: die Kaufkraft sinkt stetig und sie möchten auch
       auf die Politik einwirken können, um die Lage im Land zu verändern. Sie
       favorisieren ein offeneres politisches System. Dafür eignet sich der enge
       Krim-Konsens nicht. All das wirkt sich jetzt bei den Protesten auch aus.
       
       Sind die Veränderungen an Alter und Geographie gebunden? 
       
       Nein, sie treten überall auf, auch unabhängig vom Bildungsniveau.
       Unterschiede gibt es in einzelnen Fragen: Auf Globalisierung reagieren Alte
       und Junge unterschiedlich.
       
       Wann setzte das Umdenken ein? 
       
       Seit anderthalb Jahren läuft der Prozess. Das Bewusstsein veränderte sich
       mit den neuen Problemen in Windeseile. Jedes halbe Jahr treten
       Veränderungen auf, die sich durch nichts aufhalten lassen – wie im freien
       Flug! Als wir nach Putins Errungenschaften fragten, tauchte die Krim nur
       einmal auf. Sie ruft keine Begeisterung mehr hervor.
       
       Welche Rolle spielt die Kirche in der Auseinandersetzung? 
       
       Das Verhältnis zur Religion hat stark gelitten. Die orthodoxe Kirche trat
       gemeinsam mit der Politik als Pfeiler des Krim-Konsenses auf und
       produzierte sich als Leitkirche. Auch dessen sind die Menschen müde. Sie
       setzen sich jetzt auch für Rechte von Atheisten ein. Auch der Druck der
       Kirche auf die Schule wird negativ wahrgenommen.
       
       Sie sagen, postmaterialistische Werte gewinnen an Bedeutung. Ist Russland
       schon eine postmaterialistische Gesellschaft? 
       
       Das Verlangen nach friedlicher Außenpolitik könnte man als Anzeichen eines
       sich entwickelnden Massenbewusstseins werten. Das vollzieht sich aber vor
       dem Hintergrund sehr scharfer innerer Widersprüche. Die Menschen verändern
       sich, sprechen sich aber gleichzeitig für Vertreter des Totalitarismus aus.
       Manche rechtfertigen sogar Millionen Repressionsopfer. Die Sowjetzeit wird
       inzwischen realistischer wahrgenommen und weniger idealisiert, andererseits
       gelten totalitäre Führer wie Lenin oder Stalin nach wie vor als
       herausragende Staatenlenker. Der Modernisierungsprozess ist widersprüchlich
       und nicht geradlinig. Wie es in zwei Jahren aussehen wird, ist schwierig zu
       sagen. Das Massenbewusstsein wird sich stabilisieren, da das Individuum
       solche Schwankungen auf Dauer nicht aushält. Was wird das jedoch für ein
       System sein? Es kann sich in jede Richtung entwickeln.
       
       Aber es hat bereits ein Wandel stattgefunden...
       
       Die Menschen wollen sich verändern und bauen dabei nicht mehr auf Hilfe von
       außen. Sie wollen bei sich anfangen und selbst verantwortlich sein.
       Unzufriedenheit ist vorhanden, Protest und Nachfrage nach Demokratie
       ebenfalls. Die Proteste aber sind schwach. Denn es fehlt ein Zentrum, das
       Forderungen formulieren würde. Noch herrscht in weiten Kreisen die Meinung
       vor, alles sei Lüge und Betrug. Die Lage ist aber komplizierter. Zwar
       wünschen alle Veränderungen, jedoch hat kein Teilnehmer eine klare
       Vorstellung, was zu machen sei. Tiefsitzendes Misstrauen und Unfähigkeit zu
       konstruktivem Dialog liegen vor.
       
       Wie lange werden sich die Proteste in Moskau noch halten? 
       
       Moskau ist nicht typisch für Russland. Es handelt sich um einen hybriden
       Protest. In den Regionen dreht sich der Widerstand um lokale und konkrete
       Probleme. In Jekaterinburg ist es der Bau einer Kirche, in Archangelsk geht
       es um eine Mülldeponie. Diese Probleme lassen sich nicht zu einer
       gesamtrussischen Agenda vereinen. Hinter lokalen Schwierigkeiten vereinigen
       sich Menschen nicht. Das ist die Schwäche der Bewegung, sie ist regional
       und fragmentiert. Das hat auch etwas mit geringem Vertrauen gegenüber den
       politisch Verantwortlichen zu tun.
       
       Vertrauen die Russen keinen Politikern? 
       
       Das Vertrauen zu allen ist sehr niedrig. Auch Präsident Putins
       Herausforderer Alexei Nawalny macht da keine Ausnahme. Unter solchen
       Bedingungen ist das Funktionieren demokratischer Institutionen schwierig.
       Grundsätzlich gilt, die Köpfe der politischen Opposition genießen auch
       nicht viel mehr Vertrauen als die politische Führung. Geschätzt werden auf
       der lokalen Ebene eher Aktivisten aus der Nachbarschaft.
       
       Sind die Probleme Moskaus nicht so brennend? 
       
       Anlass für die Proteste sind die Wahlen zur Stadtduma. Moskau ist aber eine
       erfolgreiche Region mit weniger Problemen als London, Paris oder Berlin.
       Die Stadt hat ihr Gesicht gewandelt. Gründe für Proteste gibt es da
       eigentlich nicht. In Moskau geht es, im Unterschied zu den Provinzen, um
       Einhaltung von Spielregeln, um die Missachtung elementarer demokratischer
       Rechte.
       
       11 Aug 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Klaus-Helge Donath
       
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