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       # taz.de -- Selbstdiagnose im Internet: „Ich google das jetzt“
       
       > Wenn unser Autor krank ist, googelt er sich seine Diagnose zusammen. Wie
       > sehr nervt das eigentlich die Ärzt*innen? Drei von ihnen berichten.
       
   IMG Bild: Klare Selbstdiagnose: Sterbenskrank. Meist ist es nur halb so wild
       
       Diese kurze Irritation habe ich direkt bemerkt. Vielleicht war es die
       Andeutung eines Augenrollens, auf jeden Fall aber die Stirnfalten, die sich
       zusammenziehen. Nach diesem Moment ist die Professionalität wieder zurück.
       „Nein, Herr Kreienbrink, Sie haben keine Meningitis. Hätten Sie Meningitis,
       könnten Sie nicht hier sitzen.“
       
       Ja, ich bin so ein Mensch, der, ist er einmal krank, sich auf die [1][Suche
       nach seiner Diagnose] macht. Es ist eine Reise durch die Tiefen des
       Internets. Ich suche so lange, bis ich das Schlimmste gefunden habe – und
       das ist dann meine Diagnose. Es ist so einfach.
       
       Anfang des Jahres hatte ich für längere Zeit eine
       Nasennebenhöhlenentzündung. Googeln Sie das mal, und spätestens beim
       dritten Klick wird Ihnen die Meningitis entgegenspringen – wenn Sie nicht
       schon vorher bei einem Hirntumor landen. Das Internet, bei aller Hilfe, die
       es auch bieten kann, birgt wohl ein großes Risiko für Menschen mit großer
       Fantasie, hohem Einbildungsvermögen – oder Hypochondrie.
       
       So bin ich sicherlich nicht der einzige Mensch, der mit seiner ganz
       persönlichen Diagnose zu seinem Arzt, seiner Ärztin stapft und dem dann
       womöglich auch die Schamesröte etwas ins Gesicht steigt, wenn diese
       Autoritätsperson gutmütig, aber doch auch etwas süffisant, die eigene
       Recherche-Arbeit im Internet für nichtig erklärt.
       
       ## Medienkompetenz bei der Selbstdiagnose
       
       Alleine im Juni haben etwa 110.000 Menschen in Deutschland „Meningitis“
       gegoogelt. Derweil kommt es in Deutschland zu weniger als 0,5
       Meningokokkeninfektionen pro 100.000 Einwohner*innen und Jahr. Nach
       „Symptomen“ haben im Juni etwa 400.000 Menschen gesucht. Mit dabei:
       Lungenentzündung, Darmkrebs, Hirntumor. Auch beliebt ist die Suche nach
       „Nebenwirkungen“: Etwa 140.000 Menschen im Juni. Kortison, Antibiotika,
       Ibuprofen.
       
       All das sind Dinge, nach denen ich, meist mit Sorgenfalten auf der Stirn,
       auch schon gesucht habe. Und vielleicht auch, um mir selbst ein Bein zu
       stellen beim Krankheits-Googeln, habe ich mich aufgemacht, die Sicht von
       Ärzten und Ärztinnen auf dieses Phänomen einzuholen: Stört es eigentlich,
       wenn Patient*innen mit eigens gestellten Diagnosen in ihre Praxen kommen?
       
       Wolfang Buder beginnt mit einer Schätzung. „Es kommen sehr oft Patienten
       mit selbst erstellten Ideen zu mir – ich würde sagen, etwa 50 Prozent aller
       Menschen unter 30 Jahre und 10 Prozent aller Menschen über 50 Jahre“, sagt
       der Oberarzt für Anästhesiologie und Notfallmedizin. Er arbeitet in einem
       Krankenhaus in Damme, Niedersachsen. Buder unterscheidet zwischen Menschen
       mit Medienkompetenz und solchen ohne. „Einige können richtige und falsche
       Informationen trennen; vermutlich, weil sie schon lange Internetmedien
       nutzen und auf falsche Angaben sensibilisiert sind“, sagt der Arzt. „Es
       gibt aber auch Menschen, die dies nicht können und mit den absurdesten
       Theorien vorstellig werden.“
       
       Nun würde ich schon sagen, dass ich über eine gute Medienkompetenz verfüge.
       Alles andere wäre als Journalist, der auch über digitale Themen schreibt,
       eher peinlich. Doch was sind für Dr. Buder denn absurde Theorien? „Eine
       Mutter wollte für ihr Kind ein ‚Pilzmittel‘, da das Kind einen Pilz im Mund
       hat. Sie hatte es auf Google klar identifiziert. Der Oberarzt mit
       jahrelanger Erfahrung hat 15 Minuten versucht der Mutter zu erklären, dass
       es kein Pilz ist und ‚Pilzmittel‘ extreme Nebenwirkungen haben.“ Zuletzt
       habe der Arzt die Mutter aus der Aufnahme entfernen müssen, da diese nicht
       einsichtig wurde. Sie war überzeugt davon, die Pilze aus dem Mund ihres
       Kindes entfernen zu müssen.
       
       Aus einer Praxis musste ich noch nie entfernt werden. Davon überzeugen,
       dass ich keine Meningitis habe, musste mich meine HNO-Ärztin auch nicht.
       Ich glaubte ihr gerne. Doch frage ich mich noch immer, woher denn dieses
       Bedürfnis kommt, sich eigene Diagnosen zu geben – und diese im Zweifelsfall
       vor den Expert*innen zu verteidigen. Wahrscheinlich helfen da nur ein paar
       Zahlen.
       
       Eine Studie, genannt Healthcare-Barometer, der PricewaterhouseCoopers GmbH
       hat ergeben, dass 2018 40 Prozent der Patient*innen in Deutschland meinten,
       dass ihre Ärzt*innen sich zu wenig Zeit für sie nehmen. 18 Prozent meinten
       sogar, dass diese nicht kompetent genug seien – nur ein Drittel ist
       zufrieden. Gleichzeitig wurden 2018 14.100 Behandlungsfehlergutachten
       angefertigt, von denen jedoch nur ein Viertel die Vorwürfe der
       Patient*innen auf Behandlungsfehler bestätigten.
       
       Und dann noch ein Blick in den Bezirk, in dem ich lebe: Berlin-Lichtenberg.
       Hier kommen laut einer Studie des Landes Berlin ganze 51,8 Hausärzt*innen
       auf 100.000 Einwohner. Die bundesweite Hausärztedichte liegt mit 66,3 um
       einiges höher. Zu wenig Ärzte, die zu wenig Zeit haben und dabei zu viele
       Fehler machen, vielleicht könnte das eine Erklärung sein für die
       Selbstermächtigung vieler Patient*innen, ihre eigenen Diagnosen zu finden.
       
       ## Das Internet wird zu einem Strudel
       
       Christian Lübbers ist Facharzt für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde in Weilheim
       in Oberbayern. Er ist bekannt für seinen Einsatz gegen Homöopathie, deren
       Virulenz er mit auf viele falsche Informationen im Internet zurückführt.
       „Wenn Patienten die richtigen Informationen finden, ist das Internet
       definitiv ein Segen. Allerdings besteht derzeit noch eine große Gefahr
       darin, dass Patienten auf unseriöse Informationen stoßen.
       
       Hierzu zählen in meinen Augen insbesondere geschlossenen Gruppen in
       sozialen Netzwerken, in denen medizinische Laien Diagnosen vermuten oder
       Ratschläge erteilen“, betont er. Dann würden etwa [2][Globuli] empfohlen
       und als Heilmittel verkauft – könnte sein, dass solche Menschen sich dann
       seltener in den Wartezimmern der Arztpraxen wiederfinden. Sie vertrauen
       ihren helfenden Online-Communitys.
       
       Auch ich kenne diese Situation. Sicherlich würde ich nicht zu Globuli
       greifen. Doch aufgrund einer falsch verschriebenen Arznei litt ich Anfang
       des Jahres unter Nebenwirkungen. Da ich von meiner damaligen Hausärztin nur
       ein Schulterzucken auf meine Beschwerden bekam, wand ich mich an von Laien
       erstellte Internetseiten, um mich zu informieren. Das Problem daran
       erkannte ich zu spät. Dort schrieben Menschen, von denen ich nichts wusste.
       Ihr Alter, ihre Statur, ihre sonstige Gesundheit.
       
       Ich wusste nicht, wie sie ihren Alltag bestreiten, ob sie viel Stress
       haben, wie sie sich ernähren. Ich verglich aber ihre Nebenwirkungen mit
       meinen und erwartete dann, dass ich jeden Moment das Gleiche bekommen
       müsste. Positive Rückkopplung nennt sich das in der Psychologie. Wenn ich
       mich nur genug auf meine vermeintlichen Beschwerden fokussiere, werden sie
       auch auftreten. Wo positive Gedanken einen zurück an die Oberfläche holen
       können, geschieht hier das Gegenteil – das Internet wird ein Strudel, aus
       dem man nur schwer wieder rauskommt.
       
       ## Empathie versus Google Algorithmus
       
       „Vier von fünf Patienten sind offen für Argumente, die gegen ihre
       ergoogelten Diagnosen sprechen“, schätzt die Ärztin Rashmi Singh aus
       eigener Erfahrung. Sie ist Dermatologin und hat ihr Praxis in Landshut in
       Bayern. Doch bekomme sie vermehrt mit, dass einige Patient*innen nicht
       akzeptieren könnten, dass die Informationen aus dem Internet inkorrekt sein
       könnten. „Solche rigiden Patienten gehen oft nicht konform mit ihren
       Behandlungen. Sie brechen Therapien früher als andere ab, wenn sie nicht
       schnelle Verbesserung verspüren“, erzählt sie.
       
       Doch sieht sie Google nicht als einen Fluch – so wie die beiden anderen
       Ärzte auch nicht. „Wir leben in der Google-Ära. Anstatt das abzutun,
       sollten wir Ärzt*innen kommunikative Strategien entwerfen, um Dr. Googles
       Grenzen deutlich zu machen. Und die Patient*innen müssen erkennen, woher
       sie korrekte Informationen bekommen. Facebook und WhatsApp sind keine
       medizinischen Quellen.“ Es gehöre aber zur Aufgabe, die Patient*innen ernst
       zu nehmen.
       
       Und genau dieses Gefühl vermisse ich oft. Ob ich nun mit eigener Diagnose
       komme oder nicht: Ich möchte ernst genommen werden. Denn wenn ich das
       Gefühl habe, dass die Ärzt*innen mich als Menschen sehen und nicht als
       Fall, dann sind sie mir auch sehr viel näher als das Internet mit seinen
       vielen „Experten“. Das ist doch der Unterschied: Im Behandlungszimmer habe
       ich emphatische Menschen vor mir. Bei Google einen Algorithmus.
       
       11 Aug 2019
       
       ## LINKS
       
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