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       # taz.de -- Überblick zu Musik aus Brasilien: Tupi or not Tupi
       
       > Eintauchen in brasilianische Musik: Alben von Gilberto Gil, Maga Bo &
       > Coco Raízes de Arcoverde, Werther und Carioca verdienen es, entdeckt zu
       > werden.
       
   IMG Bild: Laut und kraftvoll: Coco Raízes de Arcoverde aus dem Nordosten Brasiliens
       
       Es sind verwunschene Melodien auf Bambusflöten, die der junge Gilberto Gil
       im Landesinneren des Bundesstaats Pernambuco hört, als er 1967 einem
       Auftritt der Banda de Pífanos de Caruaru beiwohnt. Gil war von den
       folkloristischen Klängen im Hinterland des brasilianischen Nordostens sogar
       verzaubert – manche sagen, jener magische Moment sei die Geburtsstunde des
       Tropicália gewesen. Diese kulturpolitische Bewegung sollte zwar nur wenige
       Jahre wirken, katapultierte die Populärmusik Brasiliens aber weit in die
       Zukunft.
       
       Nach seinem Besuch in Caruaru wurde Gilberto Gil klar, was er wollte: zwei
       Welten miteinander verbinden – psychedelischen Rock wie den der Beatles auf
       ihrem Album „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ mit der tradierten
       afrobrasilianischen und indigenen Musik. Doch 1969 wurde Gil mit Caetano
       Veloso von den Militärs ins Exil nach Europa verbannt. Kurz nach der
       Rückkehr, drei Jahre später, stattete er Caruaru erneut einen Besuch ab, um
       die Pífanos-Band aufzunehmen. Sein Back-in-Bahia-Album „Expresso 2222“
       macht programmatisch mit ihrem Stück [1][„Pipoca moderna“] auf.
       
       50 Jahre später begibt sich Maga Bo auf eine ähnliche Reise, die ihn noch
       tiefer ins Landesinnere führt. In Arcoverde macht der US-Produzent
       Aufnahmen mit einer der ältesten Coco-Bands, den Samba de Coco Raízes de
       Arcoverde.
       
       Samba de coco ist ein synkopischer Rhythmus und Tanz mit indigenen wie
       afrobrasilianischen Wurzeln, laut und kraftvoll. Er besteht aus
       Call-and-Response-Gesängen, begleitet von Pandeiro-Schellenkranz,
       Zabumba-Basstrommel und Ganzá-Rassel. Besonders am Coco ist das kollektive
       perkussive Stampfen mit den Füßen, oft verstärkt durch eigens gefertigte
       Schuhe aus Holz.
       
       ## Äußerst behutsam
       
       Aus der [2][Kooperation] entstand beim Label Kafundó, das Bo gemeinsam mit
       Wolfram Lange in Rio de Janeiro betreibt, das Album [3][„Samba de Coco
       Raízes de Arcoverde“]. Äußerst behutsam geht Bo bei seinen elektronischen
       Interventionen vor. Verve in den repetitiven Coco bringen – als zweite
       Kafundó-Veröffentlichung – die [4][Remixe] von Größen der
       afrobrasilianischen Bass-Musik. Das weltweite Interesse an brasilianischen
       Traditionen jenseits des Bekannten zeigt zweierlei: Trotz Tropicália gibt
       es immer noch viele Stile und ihre Interpreten, deren Würdigung aussteht.
       Zum anderen aber: Das ändert sich allmählich. Mixe angesagter DJs in
       Brasilien sind voll mit Afro-Percussion, Samples alter Gesänge,
       Field-Recordings und Flötenklängen aus dem Amazonas.
       
       Auch andere abgelegene Regionen geraten in den Blick, gerade aus dem armen,
       musikalisch schier unerschöpflichen Nordosten Brasiliens. Eine der
       schönsten Sampler widmet sich der Hafenstadt Belém am Amazonas-Delta: Wie
       immer beim Label Analog Africa ist die Compilation [5][„Jambú e Os Míticos.
       Sons Da Amazônia“] mit einem ausführlichen Booklet versehen, das von
       Protagonisten und Mythen erzählt.
       
       Etwa vom epischen Kampf um den Titel als „Rei de carimbó“, als
       Carimbó-König, zwischen Mestre Verequete und seinem ewigen Rivalen
       [6][Pinduca], ein Wettstreit, der nie richtig entschieden wurde. Pinduca
       war es aber, der den auf die Tupi-Indianer und afrikanische Percussion
       zurückgehenden frenetischen Stil als Erster mit elektrisch verstärkten
       Gitarren und Keyboards gespielt und ihn damit in die Moderne überführt hat.
       
       Die Musik Beléms ist auch die Geschichte eines ständigen Kulturaustauschs:
       Hier am Meer im hohen Norden Brasiliens kam es zum Kontakt mit der Karibik
       – dank der Radiosignale, die etwa aus Kuba zu empfangen waren. Mit dem
       Guitarrada entwickelte sich in Belém eine Art karibischer Country-Surf und
       später wurde aus Merengue und Carimbó der Lambada, dem die Retortenband
       Kaoma 1989 mit ihrem Plagiat zu einem weltweiten Sommerhit verhalf.
       
       ## Beknackte Sammler
       
       Sich die originalen Lambada- oder Carimbó-Schallplatten zu kaufen, können
       sich viele Brasilianer allerdings nicht leisten. Russ Slater hat die
       Situation für das britische Internetmagazin [7][The Vinyl Factory]
       beschrieben: Sammler aus den USA, Europa und Japan haben demnach die
       Vinylvorkommen leer gefischt und dadurch Preise in schwindelerregende Höhen
       getrieben. Dazu werden auch die Wieder- und Neuveröffentlichungen auf Vinyl
       von ausländischen Labels dominiert. Die Reaktion der Brasilianer ist
       pragmatisch: Das Interesse aus dem Ausland wird schon anerkannt, zugleich
       aber das bestehende Ungleichgewicht moniert.
       
       Immerhin gibt es seit 2017 mit Vinil Brasil ein kleines Presswerk, es ist
       nach Polysom erst das zweite im Lande. Es fungiert auch als Label und dort
       veröffentlichen jetzt Künstler der sprießenden Alternativszene São Paulos,
       von DJ Tudo bis Metá Metá. Auch Klassiker sollen neu veröffentlicht werden.
       Und mit Rocinante steht ein weiteres Label mit angeschlossenem Presswerk in
       den Startlöchern: Ohne Rücksicht auf den Markt will Sylvio Fraga ab 2020
       Musiker wie den Jazzer Egberto Gismonti veröffentlichen, also eher Neue
       Musik als Pop – unbeirrt davon, dass KünstlerInnen von der neuen
       rechtsgerichteten Regierung pauschal als „Vagabunden“ bezeichnet werden.
       Die brasilianische Elite sei „ignorant und elitär“, hat Fraga das
       kommentiert.
       
       So braucht es bis auf Weiteres auch ausländische Liebhaber, um vergessene
       Schätze der brasilianischen Musik zu heben. Wie das in Berlin ansässige
       Minilabel Altercat Records, ein „one-man orchestra“, hinter dem Sergi Roig
       steht. Mit [8][„Werther“] hat der Spree-Katalane ein Album von 1970 neu
       aufgelegt, das manchen als Heiliger Gral der brasilianischen Musik gilt.
       
       Aufgenommen von einer jungen Gruppe der Boheme um den Sänger Werther
       Jacques Vervloet in Rio de Janeiro, beschwört es zu Hochzeiten der
       Militärdiktatur den sanftesten Bossanova längst vergangener Tage.
       
       ## Mal wehmütig, mal unschuldig
       
       Geradezu unschuldig singt Werther mit seinem Engelsgesicht von Strand,
       Sonne und Liebe, mal wehmütig, wie gleich zum Einstieg vom Montag nach der
       Party („Terça-feira“), mal poetisch vom „König des Bodens“ („Rei Do Chão“).
       Dass das Album seinerzeit floppte, hatte wohl auch mit dem Zeitpunkt der
       Veröffentlichung zu tun: Nach dem Sieg der Fußballweltmeisterschaft in
       Mexiko 1970 habe Brasilien unter einer kollektiven „Anästhesie“ gelitten,
       wird Werther in den Linernotes zitiert – betäubt vom nationalen Taumel und
       der Repression der Militärs.
       
       Musikalisch noch vielfältiger ist die jüngste Altercat-Ausgrabung:
       [9][„Mistérios da Amazônia“] von Carioca und seiner Band Devas. Das Werk
       macht nebenher deutlich, wie früh sich in Brasilien Künstler mit dem
       afroindianischen Erbe auseinandergesetzt haben. Wie der 1955 als Ronaldo
       Leite de Freitas in Rio de Janeiro geborene Carioca.
       
       Sein 1980 erstmals veröffentlichtes Album klingt esoterisch und
       introspektiv zugleich: War er zuvor Sänger einer Progressive-Rock-Band,
       verlegt sich Carioca hier auf seine erstaunlich schnell erlernten
       Fähigkeiten als Virtuose an Saiteninstrumenten wie Mandoline, Zither und
       zwölfsaitiger Akustikgitarre. Begleitet vom Fusion-Perkussionisten Zé
       Eduardo Nazário an der Tabla hört sich das an, als sei Ry Cooder auf einem
       Acid-Flamenco-Trip.
       
       Das titelgebende, über 16-minütige Stück, taucht zum Ende ein in den
       Dschungel aus Flöten, Vogelpfeifen und den peitschenden Klang einer
       Berimbau, von wo aus es in unbekannte Weiten führt. Den Amazonas hatte
       Carioca seinerzeit noch nicht bereist, dann nahm er Ayahuasca. Die „Liane
       der Geister“ brachte ihm eine wichtige Erkenntnis: „Es machte auf einmal
       alles Sinn. 1987 habe ich schließlich das gelebt, was ich sieben Jahre
       zuvor aufgenommen hatte.“
       
       2 Aug 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=tidY5nZBy1Y
   DIR [2] https://www.youtube.com/watch?v=yc0FO1i9aSs
   DIR [3] https://www.youtube.com/watch?v=KUqOrIdVCUY
   DIR [4] https://kafundrecords.bandcamp.com/album/kafund-apresenta-samba-de-coco-ra-zes-de-arcoverde-remixed
   DIR [5] https://analogafrica.bandcamp.com/album/jamb-e-os-m-ticos-sons-da-amaz-nia
   DIR [6] https://www.youtube.com/watch?v=kTBKKd-uwz4
   DIR [7] https://thevinylfactory.com/features/brazil-reclaiming-records/
   DIR [8] https://www.youtube.com/watch?v=Iqwbp8aaJ9E
   DIR [9] https://www.youtube.com/watch?v=iGIMdGJ5cks
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ole Schulz
       
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