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       # taz.de -- berliner verkäuferinnen und wie sie den laden hier am laufen halten: Heute: Vio Mütter
       
   IMG Bild: Vio Mütter
       
       Als Vio Mütter noch schräg gegenüber von der Kuchenmanufaktur Frau
       Zeller,ihrer derzeitigen Arbeitgeberin, am zentralen Bistrostand der
       Markthalle Neun arbeitete, trug sie im Dienst stets eine gut sichtbare
       Plakette: INFO-POINT. Die hatte sie sich selber gebastelt bzw. das Amt dazu
       selbst erfunden. „Ich kenne mich halt aus mit Markthallen in Berlin, welche
       Bedeutung sie früher hatten, und natürlich mit allem, was sich heute darin
       so ereignet.“
       
       Die Plakette war so was wie eine permanente Einladung an Touristen und
       Nachbarn, die aus erster Hand etwas über den Ort erfahren wollten, bzw.
       hoffte Vio Mütter, so mit Leuten ins Gespräch zu kommen. Am Bistro, wo sich
       vor allem samstags ein buntes Völkchen aus Arbeitern und Akademikern zu
       old-school Filterkaffee, Kindl und Bockwurst trifft, hatte Vio Mütter zwar
       etwas mehr Möglichkeiten zum Plaudern, aber bei Frau Zeller, die
       Konditoreiwaren nach schwäbischen und anderen Originalrezepten verkauft,
       sind viele Kunden einem kleinen Schnack auch nicht abgeneigt.
       „Offline-netzwerken“ nennt Vio das, mit einem schicksalsergebenen Verweis
       auf ihre rheinländische Herkunft. Aus Sicht von Vio Mütter steht Frau
       Zeller als Person und mit ihren Konditoreiwaren für alles, was an der
       Markthalle prima ist. „Da schmeckt gnadenlos alles, selbst der einfache
       Streuselkuchen, weil Frau Zeller feinste Zutaten verwendet und weil sie
       Passion hat.
       
       Die Cadillacs im Sortiment sind die Wolkentorten, es gibt sie mit
       Erdbeeren, Himbeeren und Zitrone. Und: Das Preis-Leistungs-Verhältnis
       stimmt.“
       
       Das hat sich in der Stadt herumgesprochen, dennoch oder gerade deswegen
       kommen auch immer wieder Qualitätskontrolleure. „Das sind gestandene Damen
       vom Fach – nicht selten schwäbischer Herkunft. Die sind erst wortkarg,
       kaufen etwas, gehen wieder und probieren unseren Kuchen im Schutz der
       Anonymität. Danach kommen sie aber wieder, outen sich und sagen: Besser
       geht es nicht!“ Unter den Stammkunden gibt es auch einige Engländer, die
       sich regelmäßig am Wochenende mit Frau Zellers Shortbread eindecken – eine
       Rezeptur, die sie während eines Inselurlaubs in einem alten Küchenschrank
       entdeckt hat.
       
       Zweimal die Woche arbeitet Vio Mütter als Verkäuferin. Ihr beruflicher
       Werdegang begann mit einem Grafikstudium, dann schloss sie eine
       Meisterausbildung für Maßschuhe an und arbeitet heute freiberuflich als
       humoristische Zeichnerin. Letzteres steht im direkten Bezug zu ihrer
       Verkäuferinnentätigkeit, hier schließt sich der Kreis zum Info-Point.
       
       Aus einer hübschen Mappe zieht Vio Mütter Entwürfe für ein grandioses
       Bilderbuch hervor. Es sind Geschichten von einem Kobold namens Urk, die
       alle in der Markthalle Neun spielen. Beim Durchblättern stellt sich dieser
       tolle Effekt ein, Leute, Verkaufsstände und vertraute Szenen in den
       Zeichnungen auf Anhieb wiederzuerkennen. Ein Kalender könnte es auch
       werden, meint Vio Mütter, so als fortlaufende Chronik eines Orts in
       Kreuzberg mit vielen erzählenswerten Geschichten.
       
       Dorothee Wenner
       
       5 Aug 2019
       
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