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       # taz.de -- Webdoku zu Migranten in der DDR: Solidarität und Wirklichkeit
       
       > Sie kamen als Vertragsarbeiter*innen oder politische Geflüchtete in die
       > DDR. Eine Webdokumentation widmet sich ihren Geschichten.
       
   IMG Bild: Mosambikanische Vertragsarbeiter mit Kolleg*innen im VEB Fleischkombinat Berlin, 1982/83
       
       Ein Apfel, ein belegtes Brötchen und eine Hühnerkeule, damit wird Nguyen Do
       Thinh 1982 am Flughafen Berlin Schönefeld begrüßt. Er ist einer von fast
       70.000 vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen, die ab 1979 in die DDR
       entsandt werden, um sich im sozialistischen Bruderstaat technisch zu
       qualifizieren. Zurück in Vietnam sollen sie zum Wiederaufbau des Landes
       beitragen.
       
       Auf die Wahl des Ortes, die Art und Länge des Arbeitseinsatzes hat Thinh
       keinen Einfluss. Er landet im Überseehafen Rostock. „Von einer Ausbildung
       war keine Rede mehr. Es hieß: Säcke schleppen. Schlimm war, wenn man die
       Schweinehälften schleppen musste. Die sind 50 Kilo schwer, kalt und
       sauglatt. Ich wiege ja selbst gerade mal 50 Kilo“, erzählt Thinh.
       
       Die Videoaufnahmen des Interviews mit Thinh sind Teil [1][der
       Webdokumentation „Eigensinn im Bruderland“], die am 6. Juni online ging.
       Das Projekt des Zentrums für Antisemitismusforschung der TU Berlin soll die
       bislang kaum dokumentierte Einwanderungsgeschichte der DDR in den Fokus
       rücken. Unter Förderung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der
       SED-Diktatur und der Rosa-Luxemburg-Stiftung konnten Akten und Fotos aus
       DDR-Behörden mit kurzen Hintergrundtexten und Videoaufnahmen persönlicher
       Geschichten zusammengebracht werden.
       
       ## Den real existierenden Sozialismus sehen
       
       In mittlerweile fünf thematischen Episoden, sechs sollen es im Netz werden,
       erzählen neun Protagonist*innen von ihren Alltagserfahrungen in der DDR.
       Sie kamen als Vertragsarbeiter*innen, Studierende oder politische
       Geflüchtete aus Vietnam, Mosambik, Chile, Äthiopien und der Türkei. In
       ihren Erzählungen wird deutlich, dass Status und Herkunft einen Unterschied
       machten, dass manche gleicher waren als andere im
       „Arbeiter-und-Bauern-Staat“.
       
       Carlos Medina gehörte in Chile der Kommunistischen Partei an, war in
       verschiedenen Theatergruppen aktiv. Als 1973 das Militär putschte,
       flüchtete er zusammen mit seiner Frau in die DDR. „Wir wollten den real
       existierenden Sozialismus mit eigenen Augen sehen“, erzählt er im
       Interview. Chilenische Geflüchtete bildeten mit circa 2.000 Personen die
       größte Gruppe, die als „politische Emigranten“ in der DDR Zuflucht fanden.
       
       „Wenn Leute nur das Wort ‚Chile‘ hörten, ging sofort die Faust hoch und sie
       stießen ein ‚Allende‘ oder ‚Venceremos!‘ hervor“, erzählt Medina. In der
       DDR bekommt er Arbeit am Volkstheater Rostock. Wie die meisten der aus
       politischen Gründen in die DDR Geflüchteten bekommen er und seine Frau eine
       neue, komplett eingerichtete Wohnung. „Einmal klingelte es, und wir wurden
       damit konfrontiert, dass eine ostdeutsche Familie seit Ewigkeiten auf der
       Warteliste für genau diese Wohnung gestanden hatte.“
       
       ## Politische und wirtschaftliche Interessen
       
       Unterstützung revolutionärer Projekte anderswo, um die Herrschaft der SED
       in der DDR zu stärken, Solidarität mit antikolonialen Bewegungen wie in
       Mosambik, um die Anerkennung der DDR in den neu entstehenden Staaten zu
       sichern und den Außenhandel anzukurbeln, Hochschulplätze für ausländische
       Studierende als Devisenquelle. Obwohl in der Webdokumentation aufgezeigt
       wird, dass unter dem Deckmantel der „Internationalen Solidarität“ meist
       konkrete politische und wirtschaftliche Interessen liegen, verwirrt die
       Wahl einer betont objektiven Sprache in den kurzen Hintergrundtexten.
       
       Der Begriff Rassismus taucht zum ersten Mal in Episode 4 auf. Welcher
       Gewalt Migrant*innen ausgesetzt waren und sind, liest und hört man meist
       nur zwischen den Zeilen. Vertragsarbeiter*innen aus Vietnam und Mosambik
       bildeten die weitaus größte Migrant*innen-Gruppe in der DDR. Sie wurden für
       die körperlich anstrengendsten Tätigkeiten eingesetzt und schlechter
       bezahlt als ostdeutsche Arbeiter*innen.
       
       ## Keine Beziehungen mit Ostdeutschen
       
       Pham Thi Hoai kam 1977 als Studentin in die DDR, auch sie konnte sich weder
       Ort noch Studium aussuchen. „Lieben war nur unter Vietnamesen erlaubt und
       auch nur dann, wenn wir weiterhin unseren Auftrag erfüllten, akademische
       Bestleistungen zu erzielen“, berichtet sie. „Auf keinen Fall durfte man
       schwanger werden oder Beziehungen zu Ostdeutschen anfangen. Das Risiko war
       zu groß, dass man wegen der Liebe bleiben wollen würde, statt
       zurückzukehren.“
       
       Bei schwangeren Vertragsarbeiterinnen argumentierte die DDR-Regierung
       damit, dass diese durch die Geburt eines Kindes in der Produktion nicht
       mehr im gleichen Maße einsatzfähig seien. Es gab zwei Optionen: Abtreibung
       oder Zwangsrückkehr ins Herkunftsland.
       
       Jede Episode beginnt mit einem rotschwarzen Banner. Links ein Handshake
       zwischen einer schwarzen und einer weißen Hand, rechts ein Zitat der
       Protagonist*innen zum Thema der Episode. Im Hintergrund Fotos, zum Beispiel
       von vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen bei den Maidemonstrationen
       1988 in Leipzig. Den „Eigensinn im Bruderland“ soll diese Collage
       suggerieren.
       
       ## Meisterprüfung und Streik
       
       Die Geschichten ihres Eigensinns erzählen die Protagonist*innen selbst:
       Nguyen Do Thinh legt als erster Vietnamese in der DDR eine Meisterprüfung
       ab. 1975 beteiligen sich 6.000 Vertragsarbeiter*innen an verschiedenen
       Arbeitsstreiks. Pham Thi Hoai wird Hausbesetzerin in Prenzlauer Berg.
       
       Die sechste Episode wird den Titel tragen: „Ende der Freundschaft. Für
       viele Migrant*innen endet der Aufenthalt in der DDR vorzeitig und
       unfreiwillig.“ Nguyen Do Thinh wohnt bis heute in Rostock und gründete dort
       den deutsch-vietnamesischen Begegnungsverein [2][Diên Hông]. Er ist ein
       Überlebender des Brandanschlags von Rostock-Lichtenhagen.
       
       21 Aug 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://bruderland.de/
   DIR [2] /20-Jahre-Rostock-Lichtenhagen/!5086117
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Julia Wasenmüller
       
       ## TAGS
       
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