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       # taz.de -- Schriftstellerin Karina Sainz Borgos: „Logik aus Rache und Ressentiment“
       
       > Nichts wie weg: Karina Sainz Borgos brisanter Roman „Nacht in Caracas“
       > verhandelt den Zerfall des ehemaligen Modellstaates Venezuela.
       
   IMG Bild: „Ich ging, weil ich das Land nicht mehr wiedererkannte“ – Karina Sainz Borgos
       
       taz am wochenende: Frau Sainz Borgo, als Sie Venezuela verließen, regierte
       noch Präsident Hugo Chávez. Was bewog Sie damals, nach Spanien
       auszuwandern? 
       
       Karina Sainz Borgo: Als ich 2006 wegging, hatte das Land noch eine
       demokratische Struktur und die Regierung von Hugo Chávez agierte im legalen
       Rahmen. Nicht so wie heute, wo das [1][totalitäre Panorama des Regimes]
       offensichtlich und nicht zu leugnen ist. Trotzdem existierten schon damals
       sehr viel Gewalt und eine Polarisierung der Gesellschaft. Die Regierung
       hatte zwar noch sehr viele Unterstützer, doch es gab bereits sichtbare
       politische Spannungen auf der Straße.
       
       Wurden Sie persönlich bedroht? 
       
       Ich ging nicht etwa, weil ich bedroht oder verfolgt worden wäre, sondern
       weil ich das Land nicht mehr wiedererkannte. Ich arbeitete bereits als
       Journalistin. Tatsächlich war es schwierig geworden, Journalismus zu
       betreiben. Als ich nach Spanien kam, war es für mich sehr schmerzhaft, aus
       der Entfernung mit zu verfolgen, was sich in Venezuela weiter ereignete.
       
       In Spanien waren und sind Sie weiter als Journalistin tätig. Mit „Nacht in
       Caracas“ ist nun Ihr erster Roman erschienen. Wie kam es dazu? 
       
       Im Journalismus gefallen mir Reportageformate wie die Cronica. Aber in der
       neuen Situation in Spanien spürte ich bald den Drang, auch fiktionale Texte
       zu schreiben. So entstanden zunächst zwei unveröffentlichte Romane, die
       bereits von Gewalt, Erinnerung und Geschichte handeln. Im Roman entdeckte
       ich einen Raum, der mir geeigneter als der des Journalismus erschien, um
       bestimmte Sichtweisen besser darzustellen zu können. Etwa, wie man in einer
       Erzählung Schönheit festhalten kann und dennoch gleichzeitig von Gewalt und
       Hass sprechen – das hat mich sehr stark beschäftigt.
       
       Obwohl Sie es nicht ausdrücklich benennen, beschreiben Sie in „Nacht in
       Caracas“ die Verhältnisse unter der jetzigen Regierung von Nicolás Maduro,
       in der Stromausfälle, Plünderungen und Lebensmittelknappheit [2][zum Alltag
       in Venezuela] geworden sind. Ausgehend vom Tod und der notdürftigen
       Beerdigung der krebskranken Mutter lassen Sie über Adelaida Falcón die
       Frauen einer Familie und über diese die Frauen des Landes betrachten. Warum
       haben Sie diese weibliche Perspektive gewählt? 
       
       Es ist eine fast phantasmagorische Erzählung. Die politischen Hintergründe
       werden in ihr nicht unmittelbar erwähnt. Ein informierter Leser kann das
       interpretieren, ohne dass ich in meinem Roman die Namen nenne. Es wird
       ohnehin viel zu viel von ihnen gesprochen. Aber niemand spricht von
       Geschichten wie der von Adelaida Falcón, von ihnen gibt es Hunderte im
       Land. Ihnen, diesen Unsichtbaren, wollte ich eine literarische Stimme
       geben.
       
       Wie würden Sie die Stellung der Frau in der venezolanischen Gesellschaft
       verallgemeinernd charakterisieren? 
       
       Die Gesellschaft, in der ich aufwuchs, ist eine von Müttern organisierte.
       Und [3][obwohl es eine starke weibliche Präsenz in der Kultur
       Lateinamerikas gibt, sind es nicht die Frauen, die bestimmen]. In der
       venezolanischen Gesellschaft sind die, die unter den Verhältnissen am
       schwersten zu tragen haben, die Frauen. Sie halten den Betrieb aufrecht,
       auch wenn die Väter abwesend sind. Dennoch dreht sich die gesamte
       künstlerische und historische Darstellung in der Kultur Venezuelas um die
       Frau als große Kraft, die leuchtet und Leben spendet, dabei aber
       gewalttätig und widersprüchlich erscheint. Mit diesem Element wollte ich
       arbeiten.
       
       Die gebildete, alleinerziehende Mutter der Erzählerin war die erste ihrer
       Familie, die zum Studium aus der Provinz nach Caracas ging. Welche
       Generation von venezolanischen Frauen repräsentiert sie? 
       
       Sie gehört zu denen, die in den 1950er Jahren geboren wurden und dank der
       Demokratie und eines öffentlichen Bildungssystems Zugang zu Schulen und
       Universitäten erhielten. Adelaida Falcóns Mutter ist die Generation meiner
       eigenen Mutter. Sie studierten und arbeiteten, weil ihnen die Möglichkeit
       gegeben wurde, die ihre Mütter nicht hatten. Für die Geschichte des Landes
       ist diese Generation entscheidend. Mit ihr beginnt eine Periode des
       Fortschritts. Es entsteht eine Mittelschicht, die sich bildet und besser
       lebt. Diese Entwicklung fällt zusammen mit dem Erdölboom in Venezuela.
       
       Die Figur der „Marschallin“, die als selbstbewusste Anführerin einer Gruppe
       von Regierungstreuen mit Gewalt die Wohnung der Erzählerin besetzt,
       erscheint dazu wie die Antithese. Was für eine Person ist sie? 
       
       Die Marschallin ist eine Art Gegenentwurf, doch sie leidet unter dem
       gleichen Übel wie Adelaida Falcón. Klar, sie ist eine Täterin. Im Ursprung
       aber ist sie ein Opfer der sozialen Unterschiede, einer extremen Armut, die
       ihr keine andere Perspektive bietet, als sich in den Schatten anderer zu
       flüchten, um mit ihnen aufzusteigen. Zum ersten Mal hat sie etwas
       Autorität, und die verwendet sie gegen andere. Mit dieser Figur wollte ich
       den Blick auf einen Teil der Gesellschaft richten – auf jene Leute, die ein
       politisches Projekt unterstützt haben, weil sie wussten, dass sie in einem
       Land, dessen Reichtum schlecht verteilt ist, anders nicht zum Zuge kommen
       würden. Doch das ist kein sozialer Aufbau, sondern die Errichtung eines
       System aus Begünstigungen. Auch die Marschallin erhält solche Vorteile und
       handelt mit den subventionierten Lebensmitteln.
       
       Zu den wenigen Männern Ihrer Erzählung gehört Santiago, der verschwundene
       Student und Bruder von Adelaidas Freundin Ana. Wofür steht er? 
       
       Santiago ist die Zukunft. Seine Familie hat alles dafür getan, um ihm ein
       Studium zu ermöglichen. Doch plötzlich ist er ein Gefangener und wird zum
       Objekt der Gewalt, nur weil er demonstriert hat. Die Figur erinnert an die
       vielen Studenten und jungen Venezolanerinnen der letzten Protestwelle 2017.
       Diese Zukunft des Landes wird unterdrückt, ausradiert und gebrochen. In der
       Erzählung wird Santiago zum Söldner gemacht. Und stets bleibt ein Zweifel,
       das Unbehagen darüber, was er begangen haben könnte. Denn das ist Teil der
       Strategie eines totalitären Regimes: nicht nur zu unterdrücken, sondern
       auch Misstrauen zu säen.
       
       Im Nachwort betonen Sie, dass es sich bei dem Buch um eine fiktive,
       literarische Geschichte handelt. Dennoch beschreibt Ihr Roman mit
       schmerzhafter Deutlichkeit die Funktionsweise des totalitären Systems in
       Venezuela? 
       
       Ich will vermeiden, dass der Roman als ein Katalog von faktischen
       Ereignissen interpretiert wird. Das wäre Journalismus. Das hier ist nicht
       die Wahrheit, sondern eine Wahrheit, die die Fiktion anbietet. Wir sprachen
       zu Beginn dieses Gesprächs davon, dass Literatur Raum für Widersprüche und
       Vielschichtigkeit schaffen kann. „Nacht in Caracas“ ist eine Geschichte
       über den Verlust, über die Überlebenden und die Schuld, die sie empfinden.
       Das ist etwas sehr Universelles in totalitären Prozessen.
       
       Trotzdem sind die Verbrechen im Fall Venezuelas konkret dokumentiert:
       Amnesty International spricht von 8.000 außergerichtlichen Hinrichtungen
       zwischen 2015 und 2017. 
       
       Das stimmt. Der Bericht von Amnesty ist sehr umfangreich. Allein im letzten
       Jahr hat die Zahl außergerichtlicher Hinrichtungen durch die Regierung in
       den ärmeren Vierteln sogar noch zugenommen, um zu verhindern, dass die
       Leute protestieren. Das heißt: Meine Erzählung basiert auf realen
       Gegebenheiten. Aber sie gibt nicht vor, eine journalistische Version von
       etwas zu sein, das andere sehr viel mutiger, ernsthafter und
       verantwortungsvoller als ich bereits dokumentiert haben.
       
       In „Nacht in Caracas“ ziehen Gruppen wie die „Motorisierten des
       Vaterlandes“ oder die „Kinder der Revolution“ marodierend durch die
       Hauptstadt und terrorisieren ihre Bewohner. Wie konnte sich das einstige
       Versprechen von Fortschritt in Venezuela in solch einen Alptraum
       verwandeln? 
       
       Dasselbe frage ich mich auch. Ich glaube, es hat in Venezuela nie ein
       kollektives Projekt gegeben, das eines wirklichen Fortschritts. Mit einer
       Logik aus Rache und Ressentiment wurden die Eliten nun ausgetauscht. Alle
       haben offene Rechnungen. In der schizophrenen Rhetorik des „Sozialismus des
       21. Jahrhunderts“ fand sich der Weg, um sich zu rächen. Um etwas zu
       zerstören, aber nicht um etwas aufzubauen. Ich glaube, dass sowohl der
       Chavismus als auch die Regierung Maduros darauf fußt, in einer Gesellschaft
       mit großen Unterschieden noch größere Gegensätze zu schaffen: der Chavist
       und der Nicht-Chavist. Der Arme und der Oligarch. Das Volk und der
       Ausbeuter. Aus den ursprünglichen ideologischen Entgegensetzungen
       entstanden neue: der, der geht, und der, der bleibt. Der, der Brot
       organisiert, und der, der keins bekommt. Der, der das Brot auf dem
       Schwarzmarkt teuer kauft, und der, der es nicht bezahlen kann. Eine Unmenge
       an Ressentiment und Misstrauen hat die venezolanische Gesellschaft
       gespalten und tiefe Wunden hinterlassen.
       
       20 Aug 2019
       
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