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       # taz.de -- Radikalisiertes Regime in Russland: Eine feindliche Armee
       
       > In Moskau demonstrieren jede Woche Zehntausende für freie
       > Stadtratswahlen. Die russische Regierung glaubt, sie werden von den USA
       > gesteuert.
       
   IMG Bild: Jeder Versuch der Gegenwehr wird mit jahrelanger Haft bestraft
       
       Vor nicht so langer Zeit sagte der russische Präsident Putin in Richtung
       Westen: „Wir kommen in den Himmel, und ihr werdet alle verrecken.“ Im
       Moment scheint es für die russischen Bürger wesentlich einfacher, in den
       Himmel zu kommen, als ins Moskauer Stadtparlament.
       
       In Moskau sollen am 8. September Regionalwahlen stattfinden. Doch zu diesen
       Wahlen wurde keiner der 57 unabhängigen Kandidaten zugelassen, darunter
       etwa fünf aktive Kommunalpolitiker und ebenso viele mehr oder minder
       bekannte Oppositionelle. Die Entscheidung wurde Mitte Juli verkündet,
       seitdem wird in Moskau pausenlos protestiert, am vergangenen Samstag gingen
       60.000 Menschen auf die Straße.
       
       Es ist die größte Protestwelle seit 2011/2012, als [1][Hunderttausende
       wegen der gefälschten Parlamentswahl demonstrierten]. Bezeichnend für die
       Proteste ist vor allem der Kontrast zwischen der demonstrativen, fast schon
       unterwürfigen Friedlichkeit der Protestierenden und der ebenso
       demonstrativen, selbst für Russland beispiellosen Brutalität der Polizei.
       
       Bisher wurden insgesamt an die zweitausend Menschen festgenommen, viele von
       ihnen sind bereits zu großen Geld- und kleinen Haftstrafen verurteilt.
       Einigen drohen mehrjährige Gefängnisstrafen wegen vermeintlicher
       Beteiligung an Krawallen, die es in Wirklichkeit gar nicht gab. Das
       Internet ist voll mit Videos von Polizisten, die friedliche Menschen
       offenbar nach dem Zufallsprinzip aus der Menge zerren.
       
       ## Jede Gegenwehr führt zu jahrelangen Haftstrafen
       
       Auf einem ist zum Beispiel zu sehen, wie ein Beamter im Schutzanzug einer
       jungen Frau, die sich gar nicht wehrt, mit voller Kraft auf die Leber
       schlägt und sie vor Schmerz zusammensackt. Noch ein Video hält fest, wie
       Polizisten mit Knüppeln auf einen Mann einschlagen, der wehrlos auf dem
       Boden liegt. Demonstranten stehen daneben, schreien „Schande“ und
       „Faschisten“ und mischen sich sonst nicht ein: Sowohl sie als auch die
       Polizisten wissen, dass jeder Versuch, sich zur Wehr zu setzen oder andere
       zu beschützen, für Jahre ins Gefängnis führt.
       
       Ein Demonstrant steht bereits vor Gericht, weil er nach einem Polizisten
       mit einem leeren Einwegplastikbecher geworfen hatte, der Vorwurf lautet
       Widerstand gegen Staatsgewalt und Gefährdung eines Beamten. Die so
       gefährdeten, meist maskierten Beamten tragen Ganzkörperschutz, der so sehr
       an Raumanzüge erinnert, dass man ihnen den Spitznamen „Kosmonauten“ gab.
       
       Mit Zehntausenden Kosmonauten im Einsatz wirken die Szenen, die sich
       wöchentlich im Zentrum der russischen Hauptstadt abspielen, wie eine
       Sci-Fi-Serie über eine außerirdische Invasion. Das Moskauer Stadtparlament
       besteht aus lediglich 45 Angeordneten. Ihre Funktion beschränkt sich
       weitgehend darauf, die Entscheidungen des Bürgermeisters und der
       Stadtregierung abzusegnen. Entsprechend niedrig ist in der Regel auch das
       Interesse der Bürger: Bei der letzten Wahl lag die Wahlbeteiligung bei 21
       Prozent.
       
       ## Das Regime radikalisiert sich
       
       Viele wundern sich deswegen, warum die Behörden dieses Mal nicht nach dem
       üblichen Muster vorgegangen sind: einige Kandidaten beim
       Zulassungsverfahren ausschließen, einige gegeneinander ausspielen oder mit
       Schmutzkampagnen diskreditieren und anschließend alle unliebsamen Figuren,
       wenn sie doch noch zu viele Stimmen bekommen, bei der Auszählung
       aussortieren.
       
       Die Regeln für die Teilnahme an der Wahl wurden ohnehin schon in den
       letzten Jahren verschärft. Um zur Wahl zugelassen zu werden, müssen
       unabhängige Kandidaten jetzt Unterschriften von drei Prozent der Wähler in
       ihrem Wahlkreis sammeln. Das führt aber dazu, dass viele Wähler ihre
       Kandidaten jetzt lange vor der Wahl wirklich kennen.
       
       Und sie waren entsprechend verärgert, als die Moskauer Wahlkommission ihre
       Unterschriften für ungültig erklärte und sogar so dreist war, persönlich
       erschienenen Menschen ins Gesicht zu sagen, dass sie gar nicht existieren.
       Es kam zu spontanen Protesten vor dem Sitz der Wahlkommission und dann zu
       größeren Demos. Inzwischen hat man das Gefühl, dass die Machthaber alles
       daran setzen, um ihre Gegner zu radikalisieren. Tatsächlich ist es das
       Regime, das sich immer mehr radikalisiert.
       
       ## Russland fürchtet von den USA organisierten Coup
       
       Man kann es auch anders formulieren: Die russische Führung wird immer mehr
       [2][von ihrer eigenen Fantasie eingenommen], der Westen führe einen Krieg
       gegen Russland und Russland müsse sich mit allen Mitteln dagegen
       verteidigen. Die „Farbenrevolutionen“ in der Ukraine und in Georgien, so
       das offizielle Narrativ, seien von den Vereinigten Staaten organisierte
       Staatsstreiche gewesen. Die Massenproteste in Moskau 2011/2012 sollen ein
       Coup des US-Außenministerium gewesen sein, um Russland von innen zu
       zerstören.
       
       So sieht der russische Staat auch die aktuellen Proteste. [3][Die Menschen
       auf der Straße] sind für die russischen Machthaber keine unzufriedenen
       Bürger, sondern amerikanische Söldner, eine feindliche Armee. Und mit
       Invasoren geht man eben nicht zimperlich um. Als die US-Botschaft auf ihrer
       Internetseite eine Warnung an US-Bürger veröffentlichte, man solle sich am
       Tag der Proteste von bestimmten Gegenden fernhalten, wurde das vom
       russischen Außenministerium ins Gegenteil umgedreht und als vermeintliche
       Anstiftung zur Teilnahme an illegalen Massenversammlungen und Einmischung
       in die inneren Angelegenheiten Russlands, so die Mitteilung der Behörde,
       präsentiert. Kurz darauf wurde auf Drängen Russlands der amerikanische
       Botschafter abberufen.
       
       ## Wie zu Zeiten des kalten Krieges
       
       Zur selben Zeit versendete das Ministerium für Bildung und Forschung an
       alle wissenschaftlichen Einrichtungen neue Regeln für den Umgang mit
       Ausländern. Fortan haben russische Wissenschaftler jeden Kontakt mit
       Ausländern, ob beruflich oder privat, den Behörden fünf Tage im Voraus zu
       melden, mindestens zwei Russen müssen dabei sein, ein anschließender
       Bericht ist Pflicht.
       
       Diese Verordnung erinnert umso mehr an die Zeiten des Kalten Kriegs,als sie
       nur wenige Tage nach dem Atomunfall im russischen Norden an die
       Öffentlichkeit kam. Dort wurde vermutlich eine neuartige, mit Atomkraft
       angetriebene Rakete getestet. Vor einem Jahr zeigte Putin eine Animation,
       wie diese Wunderwaffe, gegen die alle modernen Abwehrsysteme wirkungslos
       seien, nach Florida fliegt.
       
       Damals spekulierten die Experten noch, es sei alles nur Bluff, sei doch die
       Entwicklung dieser Waffe zu teuer und zu gefährlich, und sie eigne sich nur
       für einen Zweck, nämlich den nuklearen Endschlag gegen die USA. Nun sind
       beim Unfall offiziellen Angaben zufolge mindestens sieben Menschen
       gestorben und in der Stadt Sewerodwinsk in der Nähe des Testgeländes wurden
       laut Greenpeace Radiationswerte gemessen, die die Norm um das Zwanzigfache
       übersteigen.
       
       Die Proteste in Moskau gehen indes weiter. Nun stellt sich die Frage, ob
       der Atomunfall noch mehr Bürger mobilisiert. Und ob die Regierung dann zu
       noch drastischeren Maßnahmen greift.
       
       16 Aug 2019
       
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