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       # taz.de -- Die Wahrheit: Safari nach Fernost
       
       > Ein Trupp Westjournalisten geht auf Erkundungstour. Und zwar durch die
       > seltsamen, von Wahlen gebeutelten Bundesländer im Osten.
       
       Als ich mittags den Leipziger Hauptbahnhof verlasse, erwartet mich Jürgen
       Schindler schon lächelnd vor seinem zebragestreiften Trabant. Im Internet
       hatte ich vor einigen Tagen sein Angebot entdeckt: „Ostsafaris“ zur
       Erkundung der neuen Bundesländer. Mein erster Gedanke: Ist das meine
       Chance, endlich diese seltsamen Menschen in der Zone zu begreifen, die
       unsere Republik politisch zurzeit an den Abgrund treiben? „Ach,
       Journalist?“, lacht Schindler, nachdem ich mich vorgestellt habe. „Ihr seid
       ja sowieso meine Hauptkunden. Aber vor Wahlen im Osten ist es immer
       besonders schlimm, heute habe ich gleich drei von euch an der Backe.“
       
       Die beiden Kollegen treffen wenig später ein. Neben mich auf die Rückbank
       des Trabis zwängt sich Leonie, die gerade ein Praktikum bei Bento, dem
       Jugendmagazin des Spiegels, absolviert. „Meinen Chef interessiert vor allem
       das Thema Sexualität in der DDR“, erklärt sie mir nach einem prüfenden
       Griff in meinen Schritt. „Die Ossis sollen ja total locker und gut im Bett
       sein.“
       
       Vorn auf dem Beifahrersitz hat Bernhardt von der Süddeutschen Zeitung Platz
       genommen. Für den gebürtigen Münchner ist es der erste Ausflug in den
       Osten. „Ich will eigentlich gar nicht hier sein, ich wurde abkommandiert“,
       klagt er. „Ich hab bei der Redaktionssitzung nicht laut genug über das
       ‚Streiflicht‘ gelacht, da heißt es bei uns immer: Ab nach Sibirien!“ Auf
       seinen Knien hält er eine große Reisetasche. Sie enthält, so verrät er uns,
       das Nötigste: Trinkwasser für drei Tage, Pfefferspray und ein Handbuch des
       Marxismus-Leninismus.
       
       Wir fahren Richtung Süden. Die Reise zieht sich, fast scheint es, als würde
       Jürgen absichtlich Umwege über Landstraßen nehmen, um möglichst viele
       Industrieruinen und Tagebaulöcher zu passieren. Ich frage ihn nach seiner
       Geschichte. „Ich war in der DDR Oberforstmeister“, beginnt er zu erzählen.
       „Von Groß Schönebeck aus haben wir die Staatsjagden für Erich Honecker und
       die anderen Mitglieder des Politbüros organisiert. Unsere Aufgabe war es,
       im Wald den planmäßigen Erfolg der leitenden Genossen sicherzustellen. Dem
       Rot- und Schwarzwild wurde Beruhigungsmittel ins Futter gemischt. Rehe hab
       ich auch schon mal eigenhändig am Baum festgebunden. Wenn ich so überlege:
       So sehr unterscheiden sich meine Safaris heute gar nicht von meinem alten
       Beruf!“
       
       ## Am Ziel im zornigen Zwickau
       
       Endlich erreichen wir unser Ziel: Zwickau, eine Stadt, deren Name uns allen
       vage bekannt vorkommt. War hier nicht mal was? Nachdem wir geparkt haben,
       eilt Bernhardt erst einmal in ein nahe gelegenes Café – für ein
       „Vespernäschen“ auf der Toilette, wie er uns ungefragt mitteilt.
       
       „Wie stehst du eigentlich zum Thema offene Beziehung?“, fragt Leonie
       unseren Reiseführer. „Ich hab nüscht dagegen. Warum soll’s nicht auch in
       der Ehe offenen Vollzug geben?“, erwidert Jürgen schlagfertig. Bernhardt
       kommt zurück und ist sichtlich aufgeregt: „Auf der Toilette kam warmes
       Wasser aus dem Hahn!“, berichtet er. „Es hat sich doch einiges getan im
       Osten. Was soll dann eigentlich immer dieses Gejammer? Ich verstehe das
       alles nicht.“
       
       Jürgen ist ein Profi, der sehr gut weiß, wonach uns der Sinn steht.
       Schnurstracks führt er uns zum Arbeitsamt. Der Sicherheitsmann am Eingang
       nickt ihm zu, als wir das Gebäude betreten. Im großen Warteraum im ersten
       Stock sitzen Dutzende Menschen mit grauen Gesichtern und starren ins
       Nichts. Bernhardt ist begeistert und fotografiert wie besessen. „Echte
       Arbeitslose! Wahnsinn! So was kenne ich nur aus den Märchen, mit denen
       meine Eltern mich früher immer vorm Nonkonformismus gewarnt haben!“
       
       Leonie versucht unterdessen, mit den Arbeitslosen ins Gespräch zu kommen.
       „Hast du schon mal Analverkehr probiert?“, fragt sie eine junge Frau, die
       neben einem Zwillingskinderwagen sitzt. Doch eine Antwort bleibt aus.
       Bernhardt bietet derweil den Ostdeutschen Bananen an. „Man ist ja doch
       Christ“, sagt er milde lächelnd. Auch er hat kein Glück, die Arbeitslosen
       schütteln stumm die Köpfe. Immerhin – Leonie steckt gleich zwei Bananen
       ein.
       
       Als wir wieder auf der Straße stehen, äußert Bernhardt einen Wunsch: „Ich
       möchte jetzt bitte mal einen ganz normalen Ostdeutschen kennen lernen!
       Können wir nicht einfach so lange durch die Stadt laufen, bis wir jemanden
       treffen, der tagsüber öffentlich Schnaps trinkt?“ – „Das ist nicht nötig“,
       beruhigt Jürgen. „Ich habe schon vorgesorgt. Wir fahren jetzt zu Ronny.“
       
       Mit dem Trabant geht es in ein Plattenbaugebiet am Stadtrand, wo wir in
       einer Sackgasse parken. Ronny erwartet uns schon an seiner Wohnungstür in
       der neunten Etage. Er trägt eine Jogginghose mit einem feuchten Fleck im
       Schritt. „Was wollt ihr dummen Scheißwessis hier?“, brüllt er und tritt
       beiseite, damit wir eintreten können.
       
       Wir setzen uns auf das speckige Sofa im Wohnzimmer. Der Boden ist fast
       vollständig mit leeren Einliter-Faxe-Dosen bedeckt, an der Wand hängt eine
       Reichskriegsflagge, im Fernseher läuft RTL2 auf voller Lautstärke. In einer
       Zimmerecke ist dem Fußballverein Dynamo Dresden ein schwarz-gelber Altar
       errichtet. „Schrecklich! Wunderbar! Genau so habe ich mir das immer
       vorgestellt“, sagt Bernhardt und fotografiert schon wieder drauflos.
       
       ## Stimmzettel mit Hufeisen
       
       „Für wen werden Sie bei der kommenden Wahl stimmen?“, frage ich Ronny. „Für
       die AfD!“, schießt es aus ihm wie aus einer Wehrmachtpistole. „Und auch für
       die SED! Und ich male noch ein Hufeisen auf den Stimmzettel!“ – „Sag mal,
       hast du je an deiner geschlechtlichen Identität gezweifelt?“, fragt Leonie.
       „Sprichst du von Homosexualität oder Non-Binarität?“, fragt Ronny zurück,
       plötzlich nachdenklich geworden. Jürgen versetzt ihm einen Stoß in die
       Rippen, da fängt er sich wieder: „Wenn du willst, zeig ich dir mal, wie
       hart meine Identität ist!“ – „Klar, lass uns whatsappen!“, freut sich
       Leonie. Als wir wieder aufbrechen, sehe ich im Augenwinkel, wie Jürgen zum
       Abschied einen Fünfzig-Euro-Schein in Ronnys Jogginghose schiebt.
       Solidarität immerhin kennen sie noch, die Ostdeutschen.
       
       „Für wen arbeitest du eigentlich?“, fragt Jürgen plötzlich völlig
       unvermittelt. Und meint mich. Verdammt, ich hatte mir so eine schöne
       Legende zurechtgelegt – von wegen abseitiges kleines Stadtmagazin in
       Castrop-Rauxel. Kennt sowieso keiner. Ich kann denen doch schlecht
       erklären, dass ich selbst aus dem Osten komme und für den Görliwood
       Reporter schreibe. Misstrauisch beäugen mich die drei. „Ach, für alle und
       jeden“, fällt mir nur ein, und das reicht ihnen offenbar.
       
       Auf der Fahrt zurück nach Leipzig wird kaum gesprochen, zu aufgewühlt sind
       wir Qualitätsjournalisten von den frischen Eindrücken. Haben wir ihn nun
       verstanden, den wilden, rätselhaften Osten? Ich weiß zumindest ganz sicher,
       dass ich von den anderen Ostdeutschen so schnell nichts mehr wissen möchte.
       
       16 Aug 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Bittner
       
       ## TAGS
       
   DIR Journalismus
   DIR Wahlen in Ostdeutschland 2024
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