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       # taz.de -- David Wagners „Der vergessliche Riese“: Autobahn in die Vergangenheit
       
       > Von den Eltern erzählen heißt auch die Heimat der Kindheit erkunden. Ein
       > Roman über Gespräche und Reisen mit einem dementen Vater.
       
   IMG Bild: David Wagner erzählt mit geradezu dadaistischer Komik
       
       Tante Gretl hat gesagt, die Dublany sind sehr intelligent, im Alter aber
       werden sie blöd.“ Dieser unvergessliche Satz fällt regelmäßig, wenn der
       Erzähler seinen Vater trifft. Der Vater führt ihn wie eine Entschuldigung
       an, meist, nachdem er etwas anscheinend Selbstverständliches vergessen hat:
       wie seine Kinder heißen zum Beispiel oder dass seine Schwester tot ist, auf
       deren Beerdigung er gerade war.
       
       Nicht nur Tante Gretls Einschätzung der Dublany – die österreichische
       Familie des Vaters mütterlicherseits – gehört in David Wagners „Der
       vergessliche Riese“ zu den wiederkehrenden Motiven. Auch die Begegnungen
       von Vater und Sohn über rund vier Jahre hinweg ähneln sich mit ihren
       Gesprächen, Autofahrten und Weihnachtsfeiern, gemeinsamen Essen und
       rituellen Besuchen von Erinnerungsorten im Rheinland.
       
       Geschätzte zwei Drittel des Buches bestehen aus Dialogen, die scheinbar
       locker dahinplätschern und sich verblüffend unterhaltsam lesen. Der Umgang
       von Vater und Sohn ist scherzhaft-fürsorglich: „Eigentlich ist es ganz
       angenehm mit dir. Oft sogar lustig“, findet der Sohn, den sein Vater mit
       „Freund“ anspricht, vielleicht, weil er immer wieder seinen Namen vergisst.
       Überhaupt hat David Wagner die geradezu dadaistische Komik, mit der die
       Demenzerkrankung jede Kommunikation prägt und auf den Kopf stellt, scharf
       im Blick.
       
       Anfangs wirkt die pointierte Vergesslichkeit fast etwas penetrant, wird der
       Vater nicht womöglich vorgeführt? Doch die mitunter frotzelnde
       Charakterisierung der Dramatis Personae erfolgt praktisch nur in Rede und
       Gegenrede, also auf Augenhöhe. Auch Sohn David kriegt sein Fett ab, etwa
       vor dessen Tochter in puncto Körpergröße: „Dein Vater ist ein bisschen
       kleiner (als ich), hat dafür aber ein größeres Ego.“
       
       Verdrängen wird zur chronischen Krankheit 
       
       In den vergangenen Jahren haben viele Autor*innen die Demenz ihrer Eltern
       literarisiert oder dokumentiert. Arno Geiger etwa erkannte das poetische
       Potenzial des Weglassens in [1][„Der alte König in seinem Exil“], Tilman
       Jens nahm in „Demenz“ Abschied von seinem Vater, dem
       Literaturwissenschaftler Walter Jens. Bücher und Feuilletons diskutierten
       die These, inwiefern speziell bei der Generation der
       Gerade-noch-Kriegsbeteiligten zum Lebensende hin das Verdrängen zur
       chronischen Krankheit werde.
       
       Auf David Wagners Vater, Jahrgang 1943, trifft das nicht mehr zu. Dennoch
       hallt im „Vergesslichen Riesen“ deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts
       nach, wenn auch zu kleinen Konversationssplittern gebrochen. Bonn und
       Bayreuth markieren die geografischen Koordinaten des Buches. Aus Bayreuth
       kommt Vater Wagner, ob ein Verwandter des berühmten Richard, dessen Motive
       das Buch durchziehen, bleibt offen. Schon als Achtjähriger hat der Vater
       als Zwerg-Statist im Festspielhaus Purzelbäume geschlagen, und auch die
       Schwestern des Vaters wurden von den Eltern – glühende Nationalsozialisten,
       die sich just auf einem Reichsparteitag kurz vor dem „Anschluss“ verliebten
       – nach den Rheintöchtern benannt.
       
       Zumindest dem Rhein ist der Vater treu geblieben, ja mehr als das. Er
       verkörpert die Bonner Republik geradezu, ob er das Kaminfenster des
       gläsernen Einfamilienhauses poliert oder später aus dem Garten der
       Godesberger Pflegevilla mit Blick auf den Drachenfels über den kniehohen
       Zaun „ausbricht“: pflichtbewusst, aber auch etwas schräg, großzügig und
       sorglos, ohne allzu sehr aufzutrumpfen.
       
       Seine Kinder heißen Miriam, David und Hanna – „Ist das nicht der
       Wiedergutmachung zu viel?“, soll der Großvater gefragt haben –, die
       Westbindung sitzt und ermöglicht, auch als Reservist gegen Kiesingers
       Notstandsgesetze zu demonstrieren. Mit seiner zweiten Frau, die er auf
       Geheiß seiner todkranken ersten Frau in der Oper kennenlernt (Tristan!),
       reist er viel; der Job als Berater macht es möglich. Das Deutscheste an ihm
       ist vielleicht die tief verwurzelten Leidenschaft für Autos, die erinnert
       werden wie Familienmitglieder, und Autobahnen – sehr schön auch eine Szene
       in der Waschanlage.
       
       Überhaupt ist „Der vergessliche Riese“, auf dessen literarische
       Klassifizierung Autor und Verlag verzichten, auch ein Heimatroman, eine
       Spurensuche des Erzählers. Fast jeden Besuch beim Vater nutzt er, um eigene
       Kindheits- und Jugendorte aufzusuchen, sein Geburtsstädtchen Andernach kurz
       hinter Koblenz, den Laacher See in der Vulkaneifel, die Universitätsstadt
       Bonn, die mal Hauptstadt der alten Bundesrepublik war. „Ich fahre ihn durch
       seine Vergangenheit. Und durch meine eigene“, heißt es. Hinter dem Vorwand,
       die Erinnerungen des Vaters zu triggern, steckt der Wunsch, es selbst zu
       tun – oder die Furcht, das Schicksal der Dublany könne auch ihn ereilen.
       
       Abschiednehmen als Gelegenheit sich kennenzulernen 
       
       „Du kennst Dich in meinem Leben jetzt also besser aus als ich?“, fragt der
       Vater, nach dem ihm der Sohn einmal wieder von Claire, seiner großen Liebe,
       erzählt hat. Erstaunlich lange wirkt das Vater-Sohn-Verhältnis entspannt,
       obwohl Arztbesuche, Autoverkäufe, polnische Betreuerinnen, der Umzug,
       überhaupt jede Menge Alltag organisiert werden muss. Erst gegen Ende nehmen
       die Gespräche manchmal überraschende Wendungen, die zeigen, dass es
       durchaus Spannungen gegeben haben muss. Sei es, dass der Vater auf einmal
       zwei späte Abtreibungen gesteht, sei es, dass der Sohn ihm vorwirft, seiner
       Familie nach der Geburt seines ersten Enkelkindes – Davids Tochter –
       geradezu panisch aus dem Weg gegangen zu sein. Dinge, die man sich aber
       vielleicht auch erst sagen kann, wenn man sich nahe genug gekommen ist.
       
       Das Abschiednehmen als Gelegenheit, sich wirklich kennenzulernen und
       nahezukommen: Diese gegenläufige Bewegung ist es, die David Wagners Buch
       bei aller Leichtigkeit ein schmerzlich-schönes Gewicht verleiht. Gegen Ende
       weitet er sie sogar noch, bezieht sie auf das Verhältnis der Menschheit zu
       ihrem Planeten, und unterläuft dabei doch jedes Pathos. Als Tochter Martha
       den Erzähler einmal begleitet, ist plötzlich die nächste Generation im
       Spiel, es wird über CO2-Abdrücke gescherzt, der Vater macht auf
       Niedrigwasser und Hungersteine im Flussbett aufmerksam.
       
       Bei der letzten Begegnung, einem Heiligabend, den Vater und Sohn im
       Chinarestaurant auf einem ankernden Rheinschiff begehen, staunt man noch
       einmal, wie raffiniert David Wagner das scheinbar Beiläufige komponiert. Im
       Scherzen darüber, dass der vergessliche Riese schon nicht mehr weiß, an
       welchem Fluss sie gerade sitzen, stellen sie sich vor, es wäre der Nil.
       „Vielleicht bleiben von der Menschheit nur die drei Pyramiden von Gizeh
       übrig. Vielleicht hatte die Menschheit ihren Höhepunkt schon, vor langer,
       langer Zeit. Und wir erleben bloß das letzte Diminuendo.“ Zwei Sätze später
       geht es schon wieder um die Autobahn.
       
       David Wagner: „Der vergessliche Riese“. Rowohlt, 269 Seiten, 22 Euro
       
       22 Aug 2019
       
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