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       # taz.de -- Seit 200 Jahren wird ökologisch gedacht: Der Mensch und die Fäkalie
       
       > Das Berliner Ausstellungsprojekt „Licht Luft Scheiße“ zeigt, wie alt die
       > Ökologie ist und was sie mit der Lebensreformbewegung zu tun hat.
       
   IMG Bild: Annie Francé-Harrar zeigte 1959 die lithobiontische Mikroflora der Tintenstriche auf Felswänden
       
       Hunderte Exponate zur Geschichte und Gegenwart der Naturforschung und
       Umweltbewegung erwarteten uns Journalisten auf einer Busreise durch Berlin.
       Das Ausstellungsprojekt „Licht Luft Scheiße, Perspektiven auf Ökologie und
       Moderne“ im Botanischen Museum/Botanischen Garten (BMBG), in der Neuen
       Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) und im Prinzessinnengarten widmet
       sich der schon zweihundert Jahre zurückreichenden Geschichte der Ökologie,
       aber auch den [1][Reformbewegungen der Moderne] und der jüngeren Geschichte
       des Berliner Artenschutzprogramms.
       
       Vorweg: Auf dem letzten Weltkongress der Botaniker in Melbourne 2011 fasste
       der letzte Redner den Stand der Forschung zusammen und wagte eine
       Vorausschau über den Erhalt der Biodiversität von Pflanzen weltweit. Ein
       Journalist fragte ihn, ob er noch Hoffnung habe. Der Botaniker überlegte
       lange und sagte dann: „Das ist eine unfaire Frage.“
       
       Ich fragte nun eine der Ausstellungsmacherinnen des Botanischen Museums
       nach dem Stand der Berliner Botanik und erfuhr: „Es gibt keine Botaniker
       mehr.“ Ihre Stellen wurden nach und nach eingespart oder umgewidmet.
       [2][2016 wollte die Freie Universität auch noch den Botanischen Garten (mit
       seinen 200 Ober- und Unter-Gärtnern) loswerden] und das Geld statt für die
       organismische Biologie für die Genetik verwenden.
       
       Nach Protesten gab es ein Umdenken: Museum und Garten bekamen 40 Millionen
       Euro, um sich bis 2020 zu modernisieren. Damit sollen, so wurde uns
       erklärt, vor allem die Touristen von der überlaufenen Mitte Berlins zu
       Sehenswürdigkeiten in anderen Bezirken gelockt werden.
       
       ## Mehr sehen als das menschliche Auge
       
       In den schon vom Umbau betroffenen Hallen gibt es unter anderem den Film
       einer schwedischen Künstlerin zu sehen, aufgenommen mit einer Kamera, „die
       mehr als das menschliche Auge sieht“, der sich einigen anscheinend
       lebensfrohen Insekten widmet, die eine schmale Hecke zwischen Äckern und
       Feldwegen bewohnen.
       
       An einer Wand hängen 120 Fotos von Berliner Grünflächen und ihrer Nutzung
       durch die Bürger. Vom einst an der kalifornischen Universität lehrenden
       Ehepaar Harrison, das bereits in den achtziger Jahren den Beweis für die
       Notwendigkeit, sich künstlerisch mit der Ökologie zu beschäftigen, auch in
       Westberlin führte, zeigt man drei Landkarten. Auf ihnen veranschaulichten
       diese „Eco-Art“-Pioniere, dass man zukünftig infolge des Klimawandels von
       einer eine Million Quadratkilometer umfassenden Dürreregion zwischen
       Portugal und Mitteleuropa ausgehen müsse.
       
       Bevor wir noch das Kleingedruckte der Karten entziffern konnten, drängte
       die Museumsführung weiter – in den „Lichterfelder Club of Hope“ mit vielen
       insektoiden Formen und Fotos, Papieren und Notizen auf Tischen und
       gebunkerten Lebensmitteln in Regalen. Das ist ein von Künstlern gestalteter
       Arbeitsraum als „Rückzugs- und Versammlungsstätte“. Einer der Künstler
       bezeichnete die Installation als eine Sammlung „verblasener
       Erlösungsfantasien – mit vielen kleinen Ideen zur Vergeblichkeit“. Eine
       sympathische Erklärung zum Verständnis ihrer Arbeit.
       
       Der nächste Raum ist mit Texten der ersten deutschen Naturschutzgesetze aus
       den Jahren 1933/34/35 tapeziert. Auf das Erschießen eines Adlers stand die
       Todesstrafe, Wilderer kamen ins KZ, und alle undeutschen Pflanzen sollten
       ausgerottet werden. Nebenan stehen zwei Vitrinen mit zarten Beispielen aus
       dem Herbarium des Museums, das einst Adalbert von Chamisso betreut hat,
       dazu mehrere Beispiele einer „postindustriellen Botanik“: Pflanzenbüschel
       aus der uranverseuchten Bergbaufolgelandschaft der Wismut im Erzgebirge.
       
       ## Sehschulung der Botaniker
       
       Am Ausgang befindet sich die Installation „Pflanzenwerkstatt der Moderne“,
       die das Museum selbst aufgestellt hat: sechs senkrechte Vitrinen, die mit
       Objekten, Porträts und Texten zeigen wollen, „inwieweit die Modernisten die
       Wissenschaft, die Biologie, beeinflusst haben“. Unter anderen handelte es
       sich dabei um den Gründer des Botanischen Gartens, Adolf Engler, den
       Gründer der biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise, Rudolf Steiner, und
       den Begründer des deutschen und europäischen Naturschutzes, Hugo Conwentz.
       
       Botanisches Museum und Garten wollen eine „Brücke herstellen zwischen
       Mensch und Pflanze“ – und das „ohne eigene App“. Man will kein
       Science-Center sein und setze als „Sehschulung der Botaniker“ weiter auf
       „Botanische Modelle“, wiewohl die letzte Modellbauerin des Museums vor
       einigen Jahren in Rente ging.
       
       ## Gegen die Waldvernutzung
       
       Die nächste Ausstellungsstation in den Kreuzberger Hallen der NGBK steht
       unter dem Motto „Archäologien der Nachhaltigkeit“. Sie erinnert mit
       Dokumenten und Exponaten unter anderem an alternative Wohn- und
       Wirtschaftsmodelle in den zwanziger Jahren mit Konzepten für die
       Abfallwirtschaft wie die des Biosophen Ernst Fuhrmann („Der Mensch und die
       Fäkalie“) und die Selbstversorgungs-Ideen des Landschaftsarchitekten
       Leberecht Migge („Freiheit unter dem Humusgesetz“), dessen „Zeltlaube“ auch
       als Nachbau im Botanischen Museum zu sehen ist. Diese praktischen Projekte
       wurden damals von etlichen Wissenschaftlern flankiert.
       
       Die Ausstellungsmacher konzentrieren sich auch auf die Forschung des
       Ehepaars Francé-Harrar über die humusbildenden Mikroorganismen im Boden.
       Annie Francé-Harrar engagiert sich schon ab den fünfziger Jahren gegen die
       Waldvernutzung.
       
       Ausgehend von solchen Pionierarbeiten wird eine Kontinuität bis zu den
       vielfältigen Stadtumbauprojekten unter ökologischem Vorzeichen in den
       achtziger Jahren sichtbar, zu dem bereits ein „Artenschutzprogramm“ für
       West-Berlin gehörte. So erhält man viele Informationen, „Fragmente einer
       Geschichte der Nachhaltigkeit“, die mehr oder weniger der Forderung Peter
       Kropotkins zur „Eroberung des Brotes“, der Selbstversorgung vieler
       Haushalte und einer Umgestaltung des Wirtschaftslebens verpflichtet sind.
       
       In der NGBK sind Arbeiten von Joseph Beuys zu den Bienen, DDR-Naturfilme
       und das Porträt eines „Ornithologen der Arbeiterbewegung“ zu sehen sowie
       ein filmisches Interview mit Gilles Clément. Hierzulande kannte man bisher
       vor allem die „Fröhliche Wissenschaft“ dieses Entomologen und Gärtners.
       
       ## Ein Nachbarschaftsgarten mit Akademie
       
       Weiter ging es in den Prinzessinnengarten, wo man uns an eine große Tafel
       bat und mit üppigem Essen aus eigenem Anbau bewirtete. Derweil erklärten
       der Gartengründer Marco Clausen und die dänische Kartoffelforscherin Asa
       Sonjasdotter uns das Konzept ihres ökologischen „Nachbarschafts-Gartens mit
       -Akademie“, wobei ihre Gedanken bis hin zu einer zukünftigen „Ernährung und
       Landwirtschaft in der Bioregion Berlin-Brandenburg“ schweiften.
       
       Bis zum Gartensaisonende am 18. September werden Workshops, Spaziergänge,
       Diskussionen und Filmabende stattfinden. Das Ganze unter der Überschrift
       „Aus den Ruinen der Moderne wachsen“, was auf den Prinzessinnengarten
       konkret zutrifft, denn er gedeiht auf den Fundamentresten des erst
       enteigneten und dann zerbombten Wertheim-Kaufhauses.
       
       25 Aug 2019
       
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