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       # taz.de -- Nach dem Totschlag-Urteil: Keine Ruhe für Chemnitz
       
       > Trotz dünner Beweislage wird der Angeklagte zu neuneinhalb Jahren Haft
       > verurteilt. Die Verteidiger kritisieren die sächsische Justiz scharf.
       
   IMG Bild: Transparent gegen Rechts unter der Statue von Karl Marx
       
       Dresden taz | Am Mittag unternimmt Alaa S. einen letzten Versuch. Er bricht
       sein Schweigen. „Ich kann nur hoffen, dass hier die Wahrheit ans Licht
       gebracht wird“, sagt der junge Syrer in den letzten Worten vor dem Urteil.
       „Ich hoffe auf ein gerechtes Urteil.“ Er wolle nicht „das zweite Opfer des
       eigentlichen Täters sein müssen“. Das erste Opfer, das sei Daniel H.
       gewesen. Das zweite Opfer aber, das drohe nun er zu werden.
       
       Alaa S. hatte es schon vor den Ermittlern beteuert, bevor er seitdem
       schwieg: Er sei unschuldig, der falsche Angeklagte. Auch am Donnerstag
       kommt der 24-Jährige selbstbewusst ins Gericht; hellbeiges Jackett, weißes
       Hemd, die Haare sorgsam gegelt, der Bart gestutzt. Er wirkt angespannt,
       aber Alaa S. versteckt sein Gesicht nicht vor den Kameras, er tat es nie in
       diesem Prozess. Auch das soll wohl das Bild vermitteln: Hier steht ein
       Unschuldiger.
       
       Aber das Chemnitzer Landgericht [1][kommt an diesem Nachmittag zu einem
       anderen Schluss]: Alaa S. sei sehr wohl schuldig, mit einem Komplizen Ende
       August 2018 in Chemnitz den 35-jährigen Daniel H. erstochen zu haben. Einem
       weiteren Mann, Dimitri M., habe er mit dem Messer in den Rücken gestochen.
       Ein gemeinschaftlicher Totschlag und eine gefährliche Körperverletzung –
       neuneinhalb Jahre Haft. „Es gibt keinen Zweifel an der Schuld des
       Angeklagten“, sagt Richterin Simone Herberger.
       
       Das, was hier vor Gericht verhandelt wurde, war Auslöser für Vorgänge, die
       vor fast genau einem Jahr über Wochen die ganze Republik aufwühlten. In der
       Nacht auf den 26. August klang in Chemnitz das Stadtfest aus – am Ende lag
       ein Mensch tot auf dem Bürgersteig: Daniel H., 35 Jahre, Tischler,
       gebürtiger Chemnitzer. Getötet mit fünf Messerstichen. Die Tatverdächtigen:
       zwei Geflüchtete. Einer von ihnen ist Alaa S.
       
       ## Richterbund verwahrt sich gegen Einflussnahme
       
       Was nun in Chemnitz einsetzte, war eine beispiellose Welle an rechten
       Demonstrationen. Neonazis aus der ganzen Republik reisten an, die AfD auch.
       Hitlergrüße wurden gezeigt, Migranten wurden attackiert, auch ein jüdisches
       und persisches Restaurant. Ein Ausnahmezustand, der eine Debatte entfachte,
       [2][die Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen sein Amt kostete] und für
       schärfere Abschiebegesetze sorgte.
       
       Seit März nun wurde vor dem Landgericht über die Tat verhandelt, mit der
       alles begann. Aus Sicherheitsgründen wurde nicht in Chemnitz verhandelt,
       sondern in Dresden, in einem Hochsicherheitssaal am Stadtrand – die
       Verteidiger wollten überhaupt nicht in Sachsen verhandeln. Noch vor
       Prozessbeginn sagte die Chemnitzer SPD-Bürgermeisterin Barbara Ludwig der
       taz, sie hoffe auf eine Verurteilung, damit die Angehörigen „Ruhe finden“.
       Ein Freispruch wäre „schwierig“ für Chemnitz. Der Richterbund verwahrte
       sich gegen eine Einflussnahme auf die Justiz. Die Verteidiger wiederum
       forderten gleich zu Prozessstart, die Richter müssten offenlegen, ob sie
       nicht selbst rechtes Gedankengut teilten – [3][man wisse ja nie in
       Sachsen]. Die Anträge scheiterten. Aber all das legte offen, wie viel Druck
       auf diesem Verfahren lastete.
       
       Aus Sicht des Gerichts war Daniel H. in der August-Nacht mit Freunden
       unterwegs, dann traf er gegen 3 Uhr auf den Iraker Farhad R. Der sei vorher
       schon als aggressiv aufgefallen, nun soll er Daniel H. nach einer „Karte“
       gefragt haben, offenbar um damit Kokain zu schnupfen. H. habe ihn
       abgewiesen, es kam zum Handgemenge. Nun sei auch Alaa S. aus einem nahe
       gelegenen Döner-Imbiss herausgestürmt, ist Richterin Herberger überzeugt.
       Er habe kurz mit Farhad R. gesprochen, dann sei er mit einem Messer auf den
       Chemnitzer losgegangen. Ein Stich traf dessen Herz, einer die Lunge. Daniel
       H. starb noch vor Ort.
       
       Das Problem nur: Farhad R. ist bis heute flüchtig. Und gegen Alaa S. blieb
       die Beweislage bis zum Schluss dünn. DNA-Spuren von ihm am Tatmesser oder
       der Kleidung von Daniel H. gab es nicht. Im Grunde fußte die Anklage auf
       den Aussagen eines Verkäufers aus dem Döner-Imbiss, der gesehen haben will,
       wie Alaa S. Stichbewegungen gegen Daniel H. ausführte. Vor Gericht äußerte
       sich der Mann indes nicht mehr so deutlich, sprach nun von
       Schlagbewegungen. Auch andere Zeugen berichteten nur, dass Alaa S. im
       Getümmel dabei gewesen sei. Aber Messerstiche von ihm? Das konnte niemand
       so direkt sagen.
       
       ## Die Anklage ergehe sich in „Missinterpretationen“
       
       Alaa S. bestritt eine Tatbeteiligung vehement. Er sei damals nur wegen des
       Lärms aus dem Döner-Imbiss gekommen, habe einen Bekannten weggezogen und
       sei dann aus Angst vor der Polizei weggerannt, sagte der gelernte Friseur,
       der 2015 nach Deutschland kam, den Ermittlern. Polizisten hatten ihn unweit
       des Tatorts festgenommen. Noch diese Woche erklärte Alaa S. [4][in einem
       ZDF-Interview], er habe nichts gemacht, „ich schwöre bei meiner Mutter“.
       Dem wahren Täter „wünsche ich lebenslang“.
       
       Auch die beiden Verteidiger von Alaa S. kritisieren in ihren Plädoyers noch
       einmal scharf das Gericht und den Ankläger. Der Prozess sei „von Anfang an
       politisch überformt worden und deshalb in seinem Ablauf determiniert“,
       klagt Anwalt Frank Drücke. Die Anklage ergehe sich in
       „Missinterpretationen“, der Staatsanwalt in „schmutziger Rhetorik“.
       Mitverteidigerin Ricarda Lang sekundiert: „Man brauchte einen Schuldigen,
       damit in Chemnitz Ruhe herrscht.“
       
       Lang verweist auf die fehlenden DNA-Spuren. Alle Zeugenaussagen, auch die
       des Döner-Verkäufers, seien widersprüchlich, jeder habe etwas anderes
       gesehen. Lang fuchtelt mit den Händen wild in der Luft: So habe der
       Hauptzeuge die Stiche beschrieben. Das solle realistisch sein? Vor Ort habe
       Chaos geherrscht, eine Massenschlägerei, es war dunkel, man wisse nicht
       mal, ob ein oder zwei Messer im Spiel waren. Auch Drücke schüttelt den
       Kopf: „Die Anklage ist ein Versuch, uns einen viel zu einfachen Film
       vorspielen.“ Es dürfe nur eines geben: einen Freispruch.
       
       Allein: Die Richter folgen ihren Worten nicht. „Jegliche Zweifel an der
       Schuld des Angeklagten wurden ausgeräumt“, behauptet Richterin Herberger.
       Die Aussagen der Zeugen würden sich sehr wohl „wie ein Puzzle stimmig
       zusammenfügen“. Übereinstimmend hätten sie Alaa S. als Teil der
       Auseinandersetzung benannt, hätten teils seine Kleidung beschrieben. Auch
       der Hauptzeuge, der Döner-Verkäufer, habe seine Kernaussage stets gleich
       beschrieben. Er habe Farhad R. und Alaa S. als Kunden gekannt – und sie
       deshalb zuordnen können. Auch gebe es keinerlei Motiv, warum er Alaa S.
       fälschlich belasten sollte. Seine späteren Relativierungen rührten von
       Bedrohungen, die er erhalten habe, und vom öffentlichen Druck.
       
       ## In Chemnitz ist noch wenig bewältigt
       
       Und noch eines betont Herberger: Ein politisches Motiv habe diese Tat nie
       gehabt. Und auch das Gericht habe „unbeeindruckt von politischen und
       medialen Einflüssen“ entschieden. Und noch ein Seitenhieb: Es sei nicht die
       Aufgabe von Politik oder Medien, Straftaten aufzuklären – sondern von der
       Justiz.
       
       Alaa S. streift sich mit der Hand übers Gesicht, als Herberger ihr Urteil
       beginnt. Er schließt die Augen, dann starrt er ins Leere. Als Herberger ihn
       direkt anspricht, schaut er demonstrativ weg. Da haben die wenigen Rechten,
       die ins Gericht gekommen sind, bereits zufrieden den Saal verlassen.
       Herbergers Begründung interessiert sie nicht mehr. In der letzten
       Zuhörerreihe sitzen dafür Bekannte von Alaa S., die ihrem Freund am Morgen
       noch aufmunternd zugewunken hatten. Nun scheinen sie fassungslos.
       
       Vorne im Verhandlungsraum sitzen auch die Mutter und Schwester von Daniel
       H., wie jeden Prozesstag. Die beiden Frauen tragen schwarze Blazer; als das
       Urteil fällt, bricht sich Erleichterung Bahn, die Schwester wischt Tränen
       aus den Augen. Auch die beiden Frauen seien von der Schuld des Syrers
       überzeugt, sagt Uwe Lang, Anwalt der Mutter. Elf Jahre hatten er und die
       anderen Opferanwälte gefordert – etwas mehr noch als die zehn Jahre, auf
       die die Staatsanwaltschaft plädierte. Zuvor hatte Opferanwalt Uwe Lang
       beschrieben, wie der Tod von Daniel H. ein „tiefes Loch in das Leben der
       Familie gerissen“ habe. „Kein Tag ist mehr wie früher. Es ist unerträglich,
       wenn man das eigene Kind zu Grabe tragen muss.“ Aber auch eines wolle die
       Familie betonen, sagt Lang: „Es ist unerträglich, dass diese Tat von
       rechten Kräften derart instrumentalisiert wurde.“ Es sei egal, dass Alaa S.
       Ausländer sei. Es gehe schlicht um eine „sinnlose, brutale Tat.“ Mit dem
       Urteil werde diese nicht ungeschehen, so Lang. „Aber den Hinterbliebenen
       hilft es, ihre Trauer zu bewältigen.“
       
       In Chemnitz aber ist noch wenig bewältigt. Es gebe weiter Gräben in der
       Stadt, räumt dort Bürgermeisterin Ludwig ein. Dieses Wochenende sollte
       eigentlich wieder das Stadtfest stattfinden. Es wurde schon vor Monaten
       abgesagt, aus Sicherheitsgründen und weil alles von dem Tod Daniel H.s
       überlagert gewesen wäre. Und bereits am Sonntag will das rechtsextreme „Pro
       Chemnitz“ wieder in der Stadt aufmarschieren. „Chemnitz ist der Ort, von
       dem die falsche Asylpolitik beendet werden soll“, tönt das Bündnis.
       
       Das letzte Wort gegen Alaa S. ist noch nicht gesprochen. Noch im
       Gerichtssaal kündigen die Verteidiger Revision an. „Das ist ein trauriger
       Tag für den Rechtsstaat“, klagt Verteidigerin Lang. „Das Urteil stand seit
       dem ersten Tag an fest. In einem anderen Bundesland wäre es nicht zu einer
       Verurteilung gekommen.“ Man rechne sich „große Erfolgsaussichten“ für die
       Revision aus.
       
       Ruhe für Chemnitz? Vorerst weiter nicht.
       
       22 Aug 2019
       
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