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       # taz.de -- Expert*innen über interreligiösen Dialog: „Es soll nicht harmonisch sein“
       
       > Konflikte sind bei ihren Seminaren erwünscht. Die Organisator*innen des
       > Programms „Dialogperspektiven“ über Religion, Identität und Vielfalt.
       
   IMG Bild: Einführung in die islamische Gebetspraxis beim Frühjahrsseminar der Dialogperspektiven im Jahr 2016
       
       taz: Frau Korneli, Herr Frank, im September beginnt ein neues Programmjahr
       der „Dialogperspektiven“. Ist es in Zeiten der voranschreitenden
       Säkularisierung nicht etwas veraltet, den Dialog zwischen Religionen zu
       suchen? 
       
       Johanna Korneli: Wir sprechen gezielt Stipendiat*innen mit
       unterschiedlicher religiöser, aber auch nichtreligiöser Verortung an. Uns
       geht es um den Dialog an der Schnittstelle zwischen Religion,
       Weltanschauung und Gesellschaft – wir wollen explizit nicht nur jüdische,
       muslimische und christliche Teilnehmende.
       
       Jo Frank: Natürlich ist der interreligiöse Dialog als rein theologische
       Veranstaltung veraltet. Genau deswegen geht es uns auch gar nicht darum.
       Das gesamte Spektrum ist im Wandel, und das wollen wir mit beschleunigen.
       
       Inwiefern? 
       
       Frank: Wir wollen wissen: Wo kann Religion einen positiven Beitrag leisten
       – und wo muss sie verhandelt werden? Was stärkt unsere Teilnehmenden in
       ihrer Identität, und wie können sie das in ihre Umwelt einbringen? Die
       Leute sind ja ganz unterschiedlich geprägt, die eine als Marxistin, die
       andere als katholische Christin, die Dritte sagt, ich bin beides.
       
       Korneli: Und genau aus solchen Prägungen heraus diskutieren wir
       gesellschaftliche Themen. Wir haben zum Beispiel über
       Schwangerschaftsabbruch und über die Ehe für alle diskutiert. Positionen
       dazu sind dann mitunter religiös geprägt – aber eben auch durch ganz viel
       anderes. Unsere Teilnehmenden sind nicht da als Sprecher*innen für das
       Judentum – sondern als Person x, die unter anderem jüdisch ist.
       
       Warum ist ein solcher Dialog wichtig? 
       
       Frank: Der Diskurs über Religion und Gesellschaft wird derzeit vor allem
       negativ geführt. Wir wollen nicht so sehr fragen: Was können wir als Juden
       oder Christinnen beitragen, sondern: Wo können wir füreinander einstehen?
       Die Dialoge, wie wir sie im Programm führen, setzen einen sehr
       vertrauensvollen Rahmen voraus. Im Gegenzug entstehen aber auch sehr enge
       Bindungen. Es bilden sich dadurch stabile Netzwerke, die dann an den
       Schnittstellen von Religionen, Weltanschauungen und der Gesellschaft wirken
       können und die in Bereichen aktiv werden, auf die wir niemals hoffen
       konnten.
       
       Zum Beispiel? 
       
       Frank: Eine unserer Ehemaligen arbeitet heute in der Personalabteilung
       eines international agierenden Wirtschaftsunternehmens. Wenn sie dort auf
       die Unternehmenskultur einwirken und Diskurse anstoßen kann, oder wenn sie
       zum Beispiel Räume einfordert für freie Religionsausübung, dann ist das
       auch ein Ergebnis unseres Programms. Wir vertreten die Überzeugung, dass
       Pluralismus gut für diese Gesellschaft ist. Und wir wollen ein Gegenmittel
       finden gegen diese sogenannte Sorge gegenüber der Vielfalt.
       
       Wer bewirbt sich denn bei Ihnen, und wie wählen Sie aus? 
       
       Korneli: Das Interesse ist groß. Wir haben etwa acht Bewerbungen auf einen
       Platz. Das mit der Werbung nehmen unsere Ehemaligen uns zum Glück beinahe
       komplett ab (lacht). Eine Bewerberin hat uns neulich geschrieben, sie
       möchte bitte auch aus ihrer katholischen Blase herauskommen. Wir versuchen,
       in unserer Auswahl Vielfalt so gut es geht abzubilden – seien es jüdische,
       muslimische, buddhistische, hinduistische, alevitische, jesidische,
       katholische, russisch- oder griechisch-orthodoxe oder freikirchliche
       Bewerber*innen. Wir achten außerdem auf eine Vielfalt an Studienfächern:
       Vom ersten Semester Chemie-Bachelor bis zum in Theologie Promovierenden
       haben wir alles dabei.
       
       Viele Dialogprogramme haben ein Problem: Sie erreichen vor allem die, die
       sowieso schon im Boot sind. Ist das bei den Dialogperspektiven auch so? 
       
       Korneli: Na klar bewerben sich auch bei uns die, die zum Dialog bereit
       sind. Das heißt aber ja noch lange nicht, dass sie schon Expert*innen auf
       dem Gebiet sind. Wir haben zum Beispiel syrische Geflüchtete unter den
       Teilnehmenden, die sagen, sie hatten noch nie im Leben Berührungspunkte mit
       anderen Religionsgemeinschaften, und das wollen sie ändern. Einer hat am
       Ende des Programms gesagt: „Bis vor einem Jahr hatte ich Angst vor Juden.“
       
       Frank: Unsere Zielgruppe ist ja ganz klar: Unsere Teilnehmenden sind allein
       schon durch die Begabtenförderung sehr privilegiert. Aus diesen Privilegien
       entsteht aber auch die Verantwortung, Gesellschaft zu gestalten. Wir sagen
       ihnen sehr direkt: Ihr könnt nicht nur in eure Netzwerke und Communities
       hineinwirken, ihr müsst sogar. Und wir bitten darum, dass sie diese
       Prozesse mit uns teilen.
       
       Korneli: Es ist trotzdem nicht immer harmonisch, aber das soll es ja auch
       gar nicht sein.
       
       Frank: Die Seminare sind nicht zur Versöhnung da, im Gegenteil. Wir setzen
       auf Auseinandersetzung, auch emotionale. Aus Konflikten können die meisten
       Erkenntnisse erwachsen. Kommt mit euren Vorurteilen! Wir werden die
       natürlich gemeinsam als solche identifizieren – aber eben auch gucken: Wo
       kommt das überhaupt her? Es bewerben sich übrigens auch Leute, die sagen:
       Ich finde Religion und Gesellschaft sollten viel stärker getrennt werden.
       Super, genau solche disruptiven Momente wollen wir auf den Seminaren.
       
       Jetzt soll das Programm internationaler werden. Warum dieser neue Weg? 
       
       Korneli: Aus der Erfahrung der letzten Jahre würde ich gar nicht von einer
       Neuerung, sondern einer Erweiterung sprechen. Unsere Teilnehmenden sind
       Teil der deutschen Begabtenförderung, aber sie oder ihre Familien kommen
       aus unterschiedlichen Ländern und sind bewegt von unterschiedlichen Themen.
       Wir agieren also ohnehin nicht nur in einem deutschen Kontext. Dass wir
       jetzt 12 Teilnehmende aus Ungarn, Polen, Frankreich, Luxemburg, Schweden
       und Großbritannien dazunehmen, ist nur konsequent.
       
       Und warum diese Länder? 
       
       Korneli: Jedes Land hat ja seine ganz eigenen Traditionen und Diskurse zum
       Verhältnis von Mehrheit zu Minderheiten. Auch die Größenordnungen sind
       teils ganz anders als in Deutschland. Ich muss da immer an Marseille
       denken: Eine Stadt mit 20 Prozent muslimischer Bevölkerung, aber auch mit
       der zweitgrößten jüdischen Gemeinschaft des Landes. Da werden Fragen des
       Verhältnisses untereinander, aber auch zur Mehrheitsgesellschaft ganz
       anders diskutiert.
       
       Frank: Auch in Fragen von Laizität und Staat zum Beispiel hat Frankreich ja
       einen fundamental anderen Ansatz als Polen. Und es sind Länder dabei, die
       vom Rechtsruck der letzten Jahre extrem betroffen sind. Was heißt
       eigentlich Weltanschauung in einem Land, das zunehmend den Ausschluss von
       Minderheiten vorantreibt und auf Homogenisierungsfantasien setzt?
       
       Welches Land meinen Sie? 
       
       Frank: Suchen Sie sich eins aus.
       
       Und was wollen Sie mit der Ausweitung erreichen? 
       
       Frank: Wir wollen für unsere Teilnehmenden das Spektrum erweitern. Und wir
       wollen die Bindungen, von denen wir eingangs sprachen, ausweiten. Wenn es
       also beispielsweise in Ungarn immer stärkere staatliche Repression gibt,
       dann muss man darauf international reagieren können. Diese Solidarität auch
       über Grenzen hinweg ist total wichtig. Die Markierung von Muslimen oder von
       Juden oder anderen religiösen oder ethnischen Minderheiten in Ländern wie
       Ungarn bedarf einer ganz konkreten Solidarität, und nicht nur einer
       gefühlten.
       
       Die Dialogperspektiven gibt es seit 2015. Wenn Sie mal in die Glaskugel
       schauen – was soll das Projekt bis 2025 im besten Fall bewirkt haben? 
       
       Frank: Revolution (lacht).
       
       Korneli: 2025 werden wir etwa 500 Ehemalige haben, die unsere Form des
       Dialoges weitertragen. Sich so selbstsicher in der Pluralität zu bewegen,
       ist noch lange nicht Realität, das hören wir immer wieder von
       Teilnehmenden.
       
       Frank: Ich wünsche mir, dass unser zur Zeit global agierendes europäisches
       Netzwerk dann zu einem globalen Netzwerk geworden ist. Die Bedingungen
       werden nicht leichter für uns. Und wir geben ja nur Impulse und legen das
       Fundament. Aber der Schritt danach ist, dass sich das im Lebensweg der
       Teilnehmenden verankert, und dass sie die Gesellschaft verändern. Und da
       gibt mir die Gegenwart Grund zur Hoffnung.
       
       10 Sep 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Dinah Riese
       
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