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       # taz.de -- Forscher über verschwiegene NS-Opfer: „Geschichte ist ein Mosaik“
       
       > Michael Quelle recherchierte zuletzt drei Jahre lang zu NS-Opfern im
       > Landkreis Stade. Ein Gespräch über stille Helferinnen und persönliche
       > Kontakte.
       
   IMG Bild: Kein Historiker aber seit Jahren auf vielfältige Weise im Thema: Michael Quelle
       
       taz: Herr Quelle, in Stade erinnert eine Stele mit 152 Namen darauf an die
       NS-Opfer aus der Region. Sie haben nun 340 weitere Namen ausfindig machen
       können. Wie haben Sie das gemacht? 
       
       Michael Quelle: Stand jetzt sind es sogar 362 Namen mit Bezug zum Landkreis
       Stade. Mit der intensiven Recherche habe ich vor drei Jahren angefangen,
       weil mir klar war, dass einige Opfergruppen nicht mit einbezogen waren. Die
       habe ich durch Suche in Archiven und Datenbanken ausfindig machen können
       und nun werden zwei zusätzliche Stehlen mit deren Namen aufgestellt. Es
       handelt sich um Opfer der Zwangsarbeit, Opfer der „Euthanasiemorde“ und der
       NS-Psychiatrie, um im Landkreis Stade umgekommene Kriegsgefangene und
       KZ-Häftlinge sowie verstorbene Displaced Persons und um deutsche Männer und
       Frauen mit den verschiedensten Verfolgungsmerkmalen.
       
       Wieso engagieren Sie sich so für die Gedenkarbeit? 
       
       Der Zugang zur Geschichte hat mehrere Ursachen. Einer ist sehr persönlich.
       Ich erinnere mich noch, dass ich Ende der 60er-Jahre an der Begräbnisstätte
       meines Großvaters stand. Etwas abseits auf dem Friedhof befand sich eine
       Grabanlage und ein Stein mit der Inschrift: „Hier sind 71 Russen und Polen
       begraben“. Ich habe gefragt, wer die dort waren, aber ich habe keine
       Antwort bekommen. In den 90er-Jahren habe ich dann nachgeforscht. Außerdem
       bin ich politisch aktiv, etwa bei der „Vereinigung der Verfolgten des
       Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten“. Ich habe ab
       1970 in einem Gewerkschaftsbetrieb gelernt, zu der Zeit herrschte
       Aufbruchstimmung. Das war eine Phase der Identitätsfindung und das hieß bei
       mir: Engagement, etwa in Form der Aufarbeitung der NS-Zeit. Dass also
       nichts und niemand vergessen und verschwiegen wird. Aber um das gleich zu
       sagen: Die Gedenkarbeit ist nicht meine Lebensaufgabe, ich habe noch andere
       Projekte.
       
       Zum Beispiel? 
       
       Schon bevor ich 1993 wieder nach Stade gezogen bin, war ich an meinem
       vormaligen Wohnort Rotenburg an der Wümme in der Friedensbewegung aktiv und
       ab 1986 verstärkt in regionaler Geschichtsaufarbeitung und im Engagement
       gegen Neonazis aktiv. Da habe ich Demonstrationen gegen die rechtsextreme
       „Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei“ angemeldet.
       
       … die 1995 verboten wurde … 
       
       Und ich habe über die Stille Hilfe, eine Hilfsorganisation für NS-Täter,
       informiert. Mit dem Rosa-Luxemburg-Club machen wir seit 19 Jahren
       politische Bildungsarbeit, etwa antifaschistische Rundgänge durch die
       Stadt.
       
       Sie sind aber kein Historiker, oder? 
       
       Stimmt. Und so würde ich mich auch keinesfalls bezeichnen. Ich habe
       Versicherungskaufmann gelernt. Ein Leben lang wollte ich aber nicht im Büro
       sitzen. Im Herbst 1972 fing ich als Pflegehelfer in den Rotenburger
       Anstalten an und machte dann eine zweite Ausbildung zum
       Heilerziehungspfleger. Im Schichtdienst habe ich dann in Hamburg 25 Jahre
       gearbeitet.
       
       Und wie kommt man dort mit der Gedenkarbeit in Kontakt? 
       
       Erste Nachforschungen habe ich in den 80er-Jahren über den Verbleib von
       Juden aus Rotenburg gemacht. In Rotenburg wurde seitens der Stadtverwaltung
       behauptet, diese wären 1929 ausgewandert und es hätte keine regionale
       Verfolgung gegeben. Für eine Staatsexamensarbeit habe ich mich mit der
       Geschichte der Rotenburger Anstalt von 1933 bis 1945 beschäftigt. Von dort
       wurden 1941 etwa 830 Bewohnerinnen und Bewohner deportiert. Ich konnte
       nachweisen, dass Hunderte von ihnen in den Verlegungsorten umkamen. Anfang
       der 90er-Jahre war ich einer der Autoren einer Veröffentlichung der
       Rotenburger Anstalten über die NS-Zeit.
       
       Wie wurden Ihre Recherchen eigentlich aufgenommen? 
       
       Ich fand gute Unterstützung bei meinen Nachforschungen in den Archiven. Und
       auch politisch, das muss man hervorheben, gab es Unterstützung von allen
       Seiten. Im Stadtrat von Stade gab es einen einstimmigen Beschluss, die
       Stele mit den Namen von NS-Opfern zu erweitern und alle Fraktionen im
       Stadtrat – die AfD ist nicht vertreten – bedankten sich für meine
       ehrenamtlichen Nachforschungen. Heute gibt es hier im Landkreis Stade in
       Bezug auf NS-Opfer kein Verdrängen mehr. Das war früher natürlich anders.
       Bis 1989 habe ich bei der Gedenkarbeit harte politische
       Auseinandersetzungen erlebt – der Umgang wurde als ideologische Frage
       diskutiert. Die Recherchen in den 80ern waren schwierig, seit den 90ern
       erlebe ich eine große Offenheit.
       
       Wie kommt das? 
       
       Naja, einerseits ist eben der ideologische Überbau nicht mehr so relevant.
       Und zum anderen sind in ländlichen Regionen und in den kleineren Städten
       die Kontakte persönlicher. Man läuft sich ja ständig in der Stadt über den
       Weg, deshalb sind die Debatten häufig konstruktiver. Man kennt sich, man
       achtet sich. Angehörige der extremen Rechten sind allerdings für mich keine
       Dialogpartner.
       
       Sie sind vermutlich auch einigen Drohungen ausgesetzt, oder? 
       
       Ich bin tatsächlich nie bedroht worden. Ich habe immer öffentlich
       gearbeitet, das gab mir in meinen Augen immer gewissen Schutz.
       
       Aber Sie haben vor Gericht gegen die NPD mal eine Unterlassungsklage
       eingereicht. 
       
       Die haben auf einem Flugblatt versucht, mich als Mitarbeiter des
       Verfassungsschutzes hinzustellen. Meine Freunde rieten mir, dagegen etwas
       zu unternehmen, sonst würde mir das dauernd anhängen. Auch mein Arbeitgeber
       hat sich solidarisch verhalten. Am Ende war die NPD 3.000 Euro los, weil
       sie gegen die Unterlassungserklärung verstoßen hatte. 2.000 Euro habe ich
       an vielfältige Gruppen gespendet und 1.000 Euro wurden in einer Stader
       Kneipe in großer Runde verfeiert.
       
       Legen Sie bei der Erinnerungsarbeit bewusst einen Fokus auf die Opfer? 
       
       Ich habe auch schon zu Tätern, die einen Bezug zur Region haben, geforscht.
       Diese Arbeit ist schwieriger. Ich habe zwei Täter-Biografien gemacht, eine
       zu Gustav Wolters, dem klassischen Stader NS-Massenmörder, wie ich ihn
       nenne. Er war als Angehöriger vom Einsatzkommando 9 am Massenmord in der
       Sowjetunion und später, drei Tage vor Kriegsende, in Hannover an einer
       Massenerschießung beteiligt. Nach dem Krieg war er ehrenwerter Kaufmann in
       Stade und als er 2002 sein Geschäft aufgab, haben Stader Bürger einen
       Dankesbrief des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder für seine
       Lebensleistung organisiert. Es ist bis heute nicht möglich, in Stade
       öffentlich über die „Causa Wolters“ zu diskutieren. Zur Täterforschung
       lässt sich aber sagen, dass heute die Materiallage sehr gut ist, denn es
       gibt fast keinen Datenschutz mehr. Die Verfahrensakten vor den
       Spruchgerichtskammern der englischen Besatzungsbehörde, die
       Entnazifizierungsakten oder die Personalakten der Nazi-Partei sind jetzt
       meistens öffentlich zugänglich.
       
       Also wechselt Ihr Blick immer ein wenig hin und her? 
       
       Mein Blick war mit dem jetzigen Projekt aber auf die vergessenen Opfer
       gerichtet, besonders die Opfer der „Euthanasiemorde“, die neben der
       Zwangsarbeit die größte Opfergruppe vor Ort war. Ihnen und den anderen
       verschwiegenen NS-Opfern muss man Name, Gesicht und Identität geben. Aber
       am Ende ist Geschichte ein Mosaik, das Stück für Stück zusammengesetzt
       wird. Und das ist nicht nur eine Geschichte von Tätern und Opfern.
       
       Sondern? 
       
       In den Unterlagen bin ich auf zwei stille Helferinnen gestoßen. Sie haben
       einen zum Tode Verurteilten von August 1944 bis Mai 1945 auf dem Dachboden
       einer Schule versteckt und mit Lebensmitteln versorgt. Als ich das in einer
       Entschädigungsakte gelesen hatte, habe ich den Sohn einer der Frauen
       angerufen und gesagt, dass ich ihm meine Hochachtung für seine Mutter
       aussprechen möchte.
       
       Sie haben unzählige Stunden in den Archiven verbracht. Macht das nicht
       einsam? 
       
       Nein, ich korrespondiere ja schließlich mit Lebenden! Man ist ja ständig
       mit Interessierten in Kontakt und da gibt es für diese Arbeit viele
       Aufgeschlossene. Die Recherche ist die eine Sache, die andere Sache ist es,
       in die Tätigkeit zu gehen. Seit vier Jahren koordiniere ich eine
       Initiative, die zum 8. Mai dazu aufruft, an den Gräbern von NS-Opfern
       Blumen niederzulegen.
       
       Woher kommt die Motivation für Ihr Engagement? 
       
       Eine Freundin hat das mal auf den Punkt gebracht: „Seefahrt tut not.“ So
       einfach ist das, es gibt schlicht keine Alternative dazu. Zum anderen
       verbinden mich dabei auch viele Freundschaften und Politik ist ja auch
       Kultur. Da erlebt man Vielseitigkeit. Ich war früher Mitglied der Deutschen
       Kommunistischen Partei. Nach dem Austritt aus der DKP war ich weiter
       vielfältig engagiert, habe aber auch mein Handeln in der Partei kritisch
       hinterfragen müssen. Ich bin 2005 Mitglied der Linkspartei geworden, habe
       aber keine Funktionen in der Partei. Ich betrachte mit Interesse die
       Vielfalt der linken, sozialen und ökologischen Bewegungen, nehme Anregungen
       auf und überdenke meine eigenen Tätigkeiten.
       
       Also haben Sie noch viel vor? 
       
       Ja, denn was ich heute so spannend finde: Es gibt in Stade rege Bewegungen
       jenseits der Parteien. Da sind zum Beispiel die Omas gegen Rechts, die
       verschieden Bereiche der Future-Bewegung, es gibt Foodsharing und
       solidarische Landwirtschaft, Critical Mass findet seit einem Jahr statt,
       Angebote aus Bereichen der evangelischen und katholischen Kirche gibt es
       auch. Eine Zusammenarbeit, die nicht mehr so sehr von Parteigrenzen,
       sondern von Offenheit geprägt ist.
       
       2 Sep 2019
       
       ## AUTOREN
       
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