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       # taz.de -- Das Leben filmen, wie es ist
       
       > Kostenlos und online zugänglich: Unbekannte Dokumentarfilme über
       > ländliches Leben im Rheinland stellen teils ausgestorbene Berufe wie
       > „Augenpliester“ und „Scherennagler“ vor
       
   IMG Bild: Aus Landeskunde wird ein historisches Dokument: Tonpfeifenbäckerinnen bei der Arbeit 1974
       
       Von Michael Freerix
       
       Die Firma Manufactum verkauft „sie noch, die guten Dinge“: Produktionen aus
       kleinteiliger handwerklicher Herstellung. Aber wo werden diese produziert
       und unter welchen Bedingungen? Kaum noch in Deutschland. Wie dies früher
       ausgesehen hat, ist in den mehr als 200 außergewöhnlichen Dokumentarfilmen
       des „Landschaftsverbandes Rheinland“ zu sehen, die seit den sechziger
       Jahren produziert wurden. Sie sind seit dem vergangenen Jahr [1][kostenfrei
       im Internet anzuschauen] (unter https://alltagskulturen.lvr.de/) und geben
       den Blick frei auf eine Welt, die so nicht mehr existiert.
       
       Hunsrück und Eifel gehörten seit je zu den armen Regionen in Deutschland.
       Der Boden gab nicht viel her, industrielle Arbeit, die Geld brachte,
       existierte kaum. Auf diesen Grundlagen hatte sich dort eine
       außergewöhnliche Mischwirtschaft herausgebildet: im Sommer die
       Landwirtschaft, im Winter die handwerkliche Heimarbeit mit Produkten für
       den ländlichen Raum.
       
       Doch nach dem Krieg änderte sich dies drastisch. So jedenfalls sah es der
       Volkskundler Dr. Gabriel Simons, der sich seit Ende des Zweiten Weltkriegs
       intensiv mit dem Leben in dieser Region beschäftigte. Simons war in der
       Eifel zu Hause und kannte „dort praktisch jeden Bauern und Handwerker“, wie
       sich sein Kameramann Rainer Nagels erinnert. Nagels hatte an einer
       Fachhochschule für wissenschaftliche Fotografie studiert und arbeitete als
       Fotograf für die Landesbildstelle Rheinland. Hier traf er Simons, der Filme
       über das handwerkliche und bäuerliche Leben im Rheinland machen wollte. Die
       Landesbildstelle würde sie finanzieren.
       
       Simons fragte den Fotografen, ob er auch mit der Filmkamera arbeiten würde.
       Nagels war begeistert. Bereits als Kind hatte er im Kinoprojektionsraum
       ausgeholfen und sich mit Filmtechnik beschäftigt. 1966 entstand ihr erster
       gemeinsamer Film über die Erntearbeiten mit einem Kuhgespann. Simons war es
       ungeheuer wichtig, keine der damals gängigen „Kulturfilme“ zu machen, in
       denen Schauspieler vor der Kamera agierten und Lebenswirklichkeit
       „nachstellten“. Er wollte das Leben filmen, wie es ist. „Vor allem auf den
       Originalton und den begleitenden Kommentar legte Simons ungeheuren Wert“,
       erinnert sich Nagels.
       
       In schneller Folge drehten die beiden nun Filme über bäuerliche
       Lebenswelten wie auch über Volksbräuche und ländliche Handwerksbetriebe.
       Wunderbar klar und kompakt ist in ihren Arbeiten zu sehen, wie Köhler im
       Wald Holzkohle herstellen, Sandsteine im Steinbruch gewonnen werden, wie
       Steingut im mit Holz befeuerten Brennofen lasiert wird oder Feldbrandziegel
       auf freiem Feld gebrannt werden.
       
       Teilweise enthüllen diese Dokumentarfilme erstaunliche arbeitskulturelle
       Verflechtungen. Der „Grafschafter Zuckerrübensirup“ zum Beispiel, der
       früher auf keinem Frühstückstisch fehlen durfte, wurde in einer ländlichen
       Fabrik hergestellt, in der ein riesiger Ringofen stand. Darin wurden von
       Januar bis in den Herbst Ziegel gebrannt. Daneben stand eine Werkhalle, in
       der vom Herbst bis zum Januar Zuckerrüben zu „Krautsaft“, wie er im
       Rheinischen heißt, verarbeitet wurden. Beides, Tonziegelherstellung und
       Zuckerrübenanbau, ist von Lehmboden abhängig. Ziegel werden aus Lehm
       gebrannt, und Zuckerrüben gedeihen hervorragend auf lehmhaltigem Boden.
       
       Tatsächlich produzierte diese Fabrik von 1893 bis 1995 Ziegel im Rundofen,
       bis sie abgerissen wurde. Erst nach 1900 kam die Produktion von
       Zuckerrübensirup hinzu, die noch heute besteht. Andererseits gab es auch
       Berufe, die sich als Zuarbeit zur industriellen Produktion erhielten.
       „Augenpliester“ und „Scherennagler“ zum Beispiel arbeiteten industriell
       gefertigte Scherenteile nach, die sie aus der Fabrik holten und
       anschließend wieder dort ablieferten. Das Gewerbe der Besenbinder, die aus
       Birkenreisig Besen fertigten, hingegen konnten Simons und Nagels nur noch
       filmen, weil diese Besen ausschließlich in der Stahlverhüttung gebraucht
       wurden, denn Birkenholz hielt der Hitze am Hochofen am besten Stand.
       
       In den Filmenlernt man viele Berufe kennen, die so fremd sind wie die
       Dialekte, die in ihnen gesprochen werden. Was ein Hamenmacher ist, ein
       Dielensäger, ein Heft- und Schalenschneider oder ein Bandwirker, das ist
       heute im Grunde vergessenes Wissen der Vergangenheit. „Viele der Menschen,
       die ich damals bei der Arbeit filmte, waren schon sehr alt. Sie fanden
       keine Nachfolger“, erinnert sich Kameramann Rainer Nagels. „Der Schuster
       Josef Esser zum Beispiel, den ich 1990 in Heimersheim an der Ahr filmte,
       der war schon 85. Er hatte lange keinen Schuh mehr hergestellt, sondern
       reparierte nur noch. Es dauerte tatsächlich gut 15 Arbeitsstunden, bis er
       einen einzigen Schuh fertig hatte!“
       
       Manchmal mussten Simons und Nagels tatsächlich Leute zusammensuchen, um in
       einer leer stehenden kleinen Werkstatt zu filmen. Trotzdem gibt es in
       diesen Filmen nichts Gestelltes oder Inszeniertes. Die Menschen seien froh
       gewesen, dass man sie filmte: „Sie blieben ganz in ihrer Rolle und waren
       stolz, dass ihre Handarbeit gefilmt wurde“, stellt Nagels fest.
       
       Unverstellt zeigen diese Dokumente auch, in was für beengten, winzigen
       Zimmern die Menschen damals lebten und wie wenig Platz in den Werkstätten
       war. Rainer Nagels musste äußerst sensibel vorgehen, um die Handwerker in
       dieser Umgebung durch die Arbeit mit der Kamera nicht zu verstören. Die
       recht große 16-mm-Filmkamera mit Stativ brauchte Platz, und obendrein
       musste künstliches Licht aufgebaut werden, einfach weil kaum Tageslicht in
       die Räume drang. Hinzu kam der Tonmann, mit dem Nagels im Team arbeitete.
       
       In der freien Natur gab es hingegen andere Probleme. Wenn zum Beispiel
       gezeigt wird, wie Arbeiter in einem Steinbruch stundenlang damit
       beschäftigt sind, Sandstein als Rohmaterial für Schleifsteine oder
       Steintränken aus dem Fels zu schlagen, dann steht das 2-Personen-Filmteam,
       genau wie die Arbeiter, in 12 Meter Höhe stundenlang am Abgrund. Jeder
       falsche Schritt könnte tödliche Folgen haben. So wird denn auch viel
       thematisiert, wie gesundheitsschädlich die oft beschaulich wirkende
       Handwerksarbeit häufig war: Die Veredlung von Tontöpfen in mit Holz
       befeuerten Öfen brachte Unmengen an Rauch und giftigen Substanzen in die
       Umwelt. Köhler zum Beispiel hatten, bedingt durch Kälte und Staub, früh
       chronische Lungenerkrankungen, Brandverletzungen waren die Regel, und
       Rheuma gehörte in der Region zu den ganz „normalen“ Alterskrankheiten.
       
       Im Fernsehen waren die Filme von Simons und Nagels nie zu sehen, man konnte
       sie nur in den bundesweit vorhandenen Landesbildstellen ausleihen. „Jeder
       Film hat die Länge, die es braucht, um sein Thema genau darzustellen“, war
       das Credo von Gabriel Simons, und das passte nicht in die ‚Sendeschienen‘
       der Sendeanstalten. Wobei Nagels früh darauf drängte, die Filme auf
       VHS-Kassetten zu übertragen, um eine weitere Verbreitung zu erzielen. „Aber
       das ist kein Vergleich zum Internet, wo manche dieser Filme bereits jetzt
       immens hohe Anklickzahlen haben“, was ihn wirklich wundert.
       
       Nichtsdestotrotz ist er weiter aktiv. Im Seniorenheim traf er auf einen
       Ethnografen, mit dem er weiterhin Dokumentarfilme dreht. Jetzt allerdings
       mit einem äußert hochwertigen Mobiltelefon!
       
       29 Aug 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://alltagskulturen.lvr.de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Freerix
       
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