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       # taz.de -- Vor der Landtagswahl: U18 an der Urne: Sachsens Jugend wählt grün
       
       > Klares Ergebnis bei der U18-Wahl. Aber auch AfD und Die Partei sind
       > stark. Vorab-Veranstaltungen wurden gut aufgenommen.
       
   IMG Bild: Grimma in Sachsen: Wie hat das „Dorf der Jugend“ gewählt?
       
       Radebeul, Dresden taz |Ginge es nach Sachsens Jugendlichen und Kindern,
       dann würden die Grünen am Sonntag stärkste Kraft im Land. Mehr als ein
       Viertel stimmten bei den U18-Wahlen in Sachsen grün. An zweiter Stelle
       stünde die AfD mit knapp 16 Prozent. Die CDU züge mit lediglich 10 Prozent
       ins Parlament ein, Kopf an Kopf mit der Linken, die bei den jungen Menschen
       11 Prozent erlangte. Die SPD landete mit 7 Prozent noch hinter der
       Tierschutzpartei und der Partei Die Partei.
       
       Der sächsische Kinder- und Jugendring, der die Wahl organisierte, gab die
       Ergebnisse am Mittwoch bekannt. Es war die erste landesweite
       U18-Landtagswahl in Sachsen. Vom 1. Juli bis zum 23. August hatten knapp
       12.000 Jugendlichen und Kinder freiwillig und geheim ihre Zweitstimmen
       abgegeben.
       
       Damit unterscheiden sich die Wahlergebnisse von den aktuellen Umfragen zur
       Landtagswahl. Bei den volljährigen Wahlberechtigten stünde die CDU mit
       knapp 30 Prozent auf Platz 1, die AfD wäre mit 25 Prozent zweitstärkste
       Kraft. Die Grünen gewännen in Sachsen zwar deutlich dazu, kämen derzeit
       allerdings nur auf Platz 4.
       
       In einem Punkt stimmen die Ergebnisse aber überein: Auch die sächsische
       Jugend ist gespalten. Bei genauerer Betrachtung der Wahlkreise zeigt sich
       eine deutliche Kluft im Wahlverhalten zwischen den Städten und auf dem
       Land. So wählten im Erzgebirgskreis über 30 Prozent der Unter-18-Jährigen
       die AfD, und lediglich 10 Prozent die Grünen.
       
       ## Manche wollen wählen, andere feiern
       
       In Leipzig war das Verhältnis umgekehrt: Hier wählten 40 Prozent der
       Jugendlichen die Grünen. Nur 8 Prozent gaben der AfD ihre Stimme. Bei
       dieser Wahl ging es jedoch nicht nur um die Prozente, erzählt
       Wahlkoordinatorin Agnes Scharnetzky. „Die Wahl war ein breites
       Bildungsprogramm.“
       
       Ein Teil davon fand vergangenen Freitagabend im Radebeuler „White House“
       statt. Im Garten des Jugendclubs wirft ein Sonnensegel Schatten auf
       Bierzeltgarnituren. Braun lackierte Europaletten sind zur Bühne gestapelt.
       Hier sollen heute PolitikerInnen aus Parteien oberhalb der 5-Pozent-Hürde
       mit Kindern und Jugendlichen ins Gespräch kommen. Aus verschiedenen Orten
       des Landkreises sind diese mit eigens eingerichteten Shuttle-Bussen
       kostenlos angereist. Manche kommen um zu wählen, andere sind nur neugierig
       oder wollen feiern.
       
       Drinnen begrüßen Mitglieder des Jugendforums Meißen, dem heutigen
       Veranstalter, alle großen und kleinen Gäste mit Eintrittskarten,
       Tombola-Losen und Gutscheinen für „Futtern ohne Muttern“. Wer diese
       einlösen möchte, passiert eine Garderobe, in der heute zwei Wahlkabinen
       stehen.
       
       Noch sind viele der heute Wahlberechtigten unentschlossen oder trauen sich
       die Entscheidung für eine Partei nicht zu. Ihnen soll das Abendprogramm und
       ausgelegtes Infomaterial des Kinder- und Jugendrings helfen. Gespräche vor
       Ort zeigen, dass die Jugendlichen ihre Stimme mit mehr Bedacht vergeben als
       manch ein Erwachsener. Auch Michelle aus Riesa, die sich offen zur AfD
       hingezogen fühlt, schaut genauer hin. Sie ist mit zwei Nachbarn hier,
       geflüchteten Syrern. Dass die AfD alle Flüchtlinge, unabhängig von
       begangenen Straftaten, abschieben wolle, mache sie unwählbar, erzählt sie
       mit Blick auf ihre Freunde.
       
       ## Alte gegen Junge
       
       Als sich die PolitikerInnen auf der Bühne anhand der Akronyme ihrer
       Parteien vorstellen, gilt das Interesse vor allem einander. Kein Wunder,
       denn nur wenige drücken sich in der Sprache junger Menschen aus.
       Interessanter scheint der zweite Programmpunkt: Wettbewerb Jugend gegen
       Politik. Dieser lockt auch die Coolkids von der Skaterampe zum Ort des
       Geschehens und fordert Freiwillige.
       
       Die Moderatorin animiert gleichaltrige Pubertierende zum Mitmachen. Sie
       führt durch den gesamten Abend. Anastasia, eine Radebeulerin mit braunem
       Haar in schwarzem Kleid und verstaubten Sneakern, tritt zum
       Zungenbrecher-Wettsprechen an: „Wenn Schnecken an Schnecken schlecken,
       merken Schnecken zu ihrem Schrecken, dass Schnecken nicht schmecken“, sagt
       sie fehlerfrei durch ihre Zahnspange. Katja Schittko (SPD) schlägt sie mit
       nur wenigen Sekunden Vorsprung.
       
       Während sich andere Jugendliche hin und wieder auf entfernte Bänke
       verteilen, verfolgt Anastasia das weitere Geschehen aufmerksam – deshalb
       sei sie schließlich hier. Der 15-Jährigen fehlt es vielleicht noch an
       differenziertem Verständnis dafür, welche Partei für was steht. Doch sie
       weiß, was ihr wichtig ist: „richtige Ziele“ gegen den Klimawandel, mehr
       Geld für soziale Berufe statt für die Polizei, ein sozialeres Schulsystem.
       Dafür möchte sie ihre Stimme geben.
       
       Als sich PolitikerInnen und Jugendliche beim Tauziehen messen – nicht über
       Muskelkraft, sondern Quizfragen – rät Anastasia leise mit. Was isst ein
       vegetarischer Vampir? Welcher Fluss fließt durch Berlin? Wer antwortet in
       allen Sprachen, ohne sie gelernt zu haben? Bei der Frage, wann die DDR der
       BRD beigetreten sei, schlägt sie die Hände über dem Kopf zusammen und
       lächelt peinlich berührt: „Das weiß ich nicht“. Anscheinend ist dieses
       Kapitel abgeschlossen.
       
       ## Große Themen
       
       Die anfängliche Zurückhaltung der Jugendlichen hat sich nach den Spielen
       mit den PolitikerInnen gelöst. In der Pause vor der Diskussion stellen sich
       viele in eine Schlange vor die Wahlkabinen. Anastasia ist eine von ihnen
       und studiert mit ernster Mime den Stimmzettel. Als sie wenige Minuten
       später wieder ins Tageslicht tritt, atmet sie tief aus. Es sei schwierig
       gewesen: „Man hat nur eine Stimme und wählt. Da fragt man sich schon: war
       das nun richtig oder falsch?“
       
       Veranstaltungen wie diese fanden in den letzten acht Wochen in ganz Sachsen
       statt, finanziert vom Bundesministeriums für Familie und der Bundeszentrale
       für politische Bildung. Die Koordination allerdings lag beim Kinder- und
       Jugendring Sachsen – genauer: Agnes Scharnetzky. Als die taz sie vergangene
       Woche in der Dresdner Neustadt trifft, trägt die junge Frau ein förmliches
       Kleid. Die Zahl der Gepäckstücke zeugen vom Arbeitstag. Mit schnellen
       Worten und wachen Augen beginnt sie zu erzählen.
       
       Erprobt bei der U18-Europawahl, hat Scharnetzky die U18-Wahl von der Idee
       bis zur Durchführung federführend begleitet. Dies ist kein Widerspruch –
       denn schon vor Wahlbeginn haben Jugendliche die inhaltliche Arbeit
       gestaltet. In Workshops wurden Themen zusammengetragen, die Jugendliche
       bewegen. Eine Jury aus sieben SchülerInnen verschiedener Schulformen und
       einer Studentin hat daraus zentrale Themen ermittelt. Daraus wurden Fragen
       an Parteien formuliert.
       
       Neben der Herabsetzung des Wahlalters standen Infrastruktur-, Schul- und
       soziale Themen hoch im Kurs. Der Sinn für Gerechtigkeit ist Scharnetzky in
       den betreuten Workshops besonders aufgefallen. Die Jugend sei stärker
       darin, ihre Privilegien zu reflektieren, als ihre Eltern. „Natürlich nennen
       sie das nicht so. Aber sie erkennen: Ich schaue mich um und sehe, dass
       Leute um mich herum nicht das haben, was ich habe“. Auch die Frage: „Was
       tut ihr eigentlich dafür, dass wir hier bleiben?“, treibe viele um.
       
       ## Weltoffene Jugend
       
       Bis auf die AfD gaben die im Landtag vertretenen Partien Antworten. So
       entstanden Wahlprüfsteine, die die Wahl erleichtern sollen. Dies sei
       niedrigschwellig aber nicht oberflächlich, denn „so funktioniert Politik“,
       sagt Scharnetzky.
       
       Auch wenn die Ergebnisse keinen Einfluss auf die Zusammensetzung des
       sächsischen Landtags haben, werden sie eine Orientierung in der
       Interessenvertretung der sächsischen Jugend sein, erklärt Scharnetzky. „Ein
       positiver Nebeneffekt ist, dass auch politische Bildung der Fachkräfte
       stattfand“. Diese zeigten sich in politischer Bildungsarbeit meist
       verunsichert, sagt Scharnetzky. Nach der Europawahl wurden die Wahlkreise
       von drei auf nun sieben vergrößert, um den Rückschluss von Ergebnissen auf
       bestimmte Einrichtungen weiter zu erschweren.
       
       Eine Erklärung für die starken Unterschiede zwischen Stadt und Land
       lediglich bei Eltern oder Bildungsangeboten zu suchen, ist jedoch ein
       falscher Rückschluss. Sie sind das Ergebnis von Strukturschwäche und die
       fehlende Erreichbarkeit der Vielfalt von Lebensformen und Angeboten der
       Ballungsgebieten. Wo nur zwei Mal am Tag der Bus fährt, findet wenig
       Austausch statt.
       
       Im Gesamtergebnis aber zeigt die U18-Wahl eine Orientierung an
       demokratischen Parteien und ein Umweltbewusstsein, das sich im
       Bundesdurchschnitt wohl wieder fände. Ginge es nach den Kindern und
       Jugendlichen, würden sie Sachsen weltoffener gestalten.
       
       28 Aug 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Pia Stendera
       
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