URI: 
       # taz.de -- Opferschutz in Deutschland: Protokolle der Gewalt
       
       > Claudia Bormann sichert Spuren häuslichen Missbrauchs. Ärztinnen wie sie
       > sind selten. Forensische Pflegerinnen und Pfleger könnten die Lücke
       > füllen.
       
   IMG Bild: Für viele Opfer ist Claudia Bormann der erste Mensch, dem sie von ihrem Martyrium erzählen
       
       Wenn Claudia Bormann im Gerichtssaal sitzt, liest sie blaue Flecken. Ihre
       Worte können dann über „schuldig“ oder „unschuldig“ entscheiden. Als
       Gutachterin beurteilt sie, ob das Hämatom zu dem passt, was Opfer und Täter
       erzählen. Die Größe, die Länge, vor allem die Farbe ist wichtig. Ist es
       blaugrau, ist die Tat noch frisch. Gelb spricht für ein paar Tage Abstand.
       Ist das Foto verwackelt, bleibt ihr Urteil aus.
       
       Nur wenn gut dokumentiert wurde, kann Bormann aussagen. Dann beurteilt sie,
       ob ein Sturz oder Schlag plausibel ist. Ob das Opfer mit einem Gegenstand
       geschlagen wurde. Ob es sich gewehrt haben kann. Ist von einem Messer die
       Rede, aber keine Schnitt- oder Stichwunde dokumentiert, stimmt etwas nicht.
       
       Bormann ist blond, klein, wortgewandt. Sie kann stundenlang von
       Schürfwunden erzählen und lächelt trotzdem. Meistens wird sie bei Fällen
       [1][häuslicher Gewalt] als Gutachterin berufen. Oft sind die Protokolle
       mangelhaft. Wenige Ärzte und Pfleger sind geschult darin, Gewalt zu
       dokumentieren. Bormann will das ändern.
       
       2017 gab es in Deutschland 138.893 Anzeigen wegen Gewalt in der
       Partnerschaft. „Diese Zahlen sind schockierend, denn sie zeigen: Für viele
       Frauen ist das eigene Zuhause ein gefährlicher Ort“, sagte
       Familienministerin Franziska Giffey bei der Vorstellung der
       Kriminalstatistik. In 82 von 100 Partnerschaftsdelikten sind die Opfer
       weiblich. Die Dunkelziffer liegt um ein Vielfaches höher. „Viele fürchten
       sich, Anzeige zu erstatten“, sagt Bormann.
       
       Nur jede fünfte Frau, die Gewalt erlebt, geht zur Polizei. Da setzen
       Bormann und ihre Kollegen an. Wenn sie nicht vor Gericht interpretieren,
       dokumentieren sie Gewalt. Am Münchner Institut für Rechtsmedizin arbeiten
       sie in einer der wenigen Gewaltopferambulanzen Deutschlands. Dort können
       Frauen Spuren sichern lassen, bevor sie verblassen. Eine Anzeige müssen sie
       nicht erstatten.
       
       An der Wand klebt ein Sticker mit der Aufschrift „Du bist nicht allein“.
       Dazu ein gynäkologischer Stuhl, eine Liege, beides in hellem Orange. Im
       Schrank liegen Lineale, Wattestäbchen, blaue Plastikhandschuhe. Daneben ein
       Regal mit Dokumentationsbögen, dem Herzstück der Arbeit klinischer
       Rechtsmediziner. Melden sich Gewaltopfer bei der Münchner Ambulanz, ist das
       der Ort, an dem sie auf Bormann treffen. Hier erzählen sie oft zum ersten
       Mal von ihrem Leid: Ehefrauen, die wiederholt geschlagen wurden.
       Studentinnen, die von ihrem Partner vergewaltigt wurden. Menschen, die
       darauf angewiesen sind, dass Bormann das Schlimme festhält. Um es ahnden zu
       können. Um es in Zukunft verhindern zu können.
       
       „In Bayern sind wir die Einzigen, die das anbieten“, sagt Bormann.
       Bundesweit sieht es nicht besser aus. 34 Gewaltopferambulanzen gibt es,
       davon einige nur für Kinder, kaum eine hat an den Wochenenden geöffnet. Der
       Weiße Ring, Deutschlands größte Opferhilfeorganisation, sieht durchaus
       „einen bundesweiten Mangel an Gewaltopferambulanzen“.
       
       Auch Thomas Bajanowski, Präsident der deutschen Gesellschaft für
       Rechtsmedizin, sagt: „Gewaltopferambulanzen kosten Geld. Die dort
       erbrachten ärztlichen Leistungen können oft nicht über die Krankenkassen
       abgerechnet werden.“ Doch es fehlt nicht nur am Geld, sondern auch an
       Rechtsmedizinern, die Gewaltambulanzen leiten könnten. Gerade einmal „260
       Ärzte arbeiten an rechtsmedizinischen Instituten. Davon die wenigsten in
       Vollzeit in der klinischen Rechtsmedizin“, sagt Bajanowski.
       
       Auch Bormann ist nur durch Zufall klinische Rechtsmedizinerin geworden.
       Erst arbeitete sie als Verlagskauffrau bei der Süddeutschen Zeitung,
       entschied sich dann aber doch für ein Medizinstudium. Lange wollte sie
       Frauenärztin werden. Ihre Doktorarbeit führte sie dann an das Institut für
       Rechtsmedizin. Dort erhielt sie das Angebot, ein Projekt zur Gewalt gegen
       Frauen zu leiten und an der Entstehung einer Gewaltopferambulanz
       mitzuwirken. Kriminalistik hatte sie schon immer interessiert, ihr Vater
       war bei der Mordkommission.
       
       Und heute sichert sie Spuren, die in Ermittlungen einfließen. „Ich
       dokumentiere alles.“ Mit den Händen zählt sie die Schritte der Untersuchung
       nach. Fingerspitze auf Fingerspitze. Neun Seiten umfasst der
       Dokumentationsbogen. Er beginnt mit den Personalien und der Vorgeschichte.
       Nimmt das Opfer Medikamente, verhält es sich ängstlich oder schüchtern?
       Bormann kreuzt an. Die Patientin entkleidet sich, erst oben, dann unten.
       „Wir wollen grundsätzlich den ganzen Körper untersuchen. Das ist wichtig
       für die Glaubwürdigkeit vor Gericht“, sagt Bormann.
       
       Nicht selten entdeckt die Rechtsmedizinerin wunde Stellen, die selbst dem
       Opfer nicht aufgefallen sind. Wie wurde das Opfer geschlagen? Mit einem
       Gegenstand? Hat es sich versucht zu schützen? Mit der Faust? Oder mit der
       flachen Hand? Bormann notiert. Sie sagt, dass sie emotional damit umgehen
       kann, Opfer kurz nach schwersten Gewalttaten zu untersuchen. Das kühle
       bürokratische Papier, die durchgetakteten Abläufe, sie ermöglichen Distanz
       zum Gesehenen.
       
       Kommt es zum Prozess, kann jedes Detail entscheidend sein. Auch deshalb
       nimmt Bormann Proben: Abriebe der Haut, Abstriche, Blut und Urin. Jede
       Verletzung, jedes Hämatom hält sie fotografisch fest. Dann kommt das kleine
       rechtwinklige Lineal zum Einsatz. Es soll die Größe des Hämatoms messen.
       Jedes Detail trägt Bormann ein, auf Blättern mit Skizzen menschlicher
       Körper markiert sie die verletzten Stellen.
       
       Bis zu zwei Stunden lang kann eine Untersuchung dauern. Manche Frauen
       wollen es schnell hinter sich bringen, andere nutzen den Raum, um endlich
       von ihrem lebenslangen Leidensweg erzählen zu können. Bormann ist dann
       Ärztin und Sozialarbeiterin zugleich. Sie tröstet, setzt sich gemeinsam mit
       den Frauen an den Computer und sucht nach Frauenhäusern, meistens rät sie
       zur Anzeige. Zwei Jahre lang haben die Opfer dazu Zeit. Solange werden der
       Bogen und die Beweismittel gelagert. Manche Frauen kommen immer wieder.
       Doch Bormann ist niemand, der daran verzweifelt. Sie weiß, dass ohne die
       Schweigepflicht viele Frauen gar nicht oder zu spät nach einer Tat zur
       Spurensicherung kommen würden.
       
       Aufgrund der fehlenden Gewaltopferambulanzen sind die meisten Frauen auf
       Haus- oder Klinikärzte angewiesen. Nur die wenigsten von ihnen sind
       geschult darin, Spuren zu sichern. „Im gesamten Medizinstudium ist nur eine
       Dreiviertelstunde Unterricht in Gewaltdokumentation vorgesehen“, sagt
       Bormann. Spricht sie über diese Lücke im System, verschwindet ihr Lächeln
       für einen Moment.
       
       Rechtsmediziner*innen wie sie haben hingegen gelernt, Verletzungen zu
       erkennen und zu beschreiben. Und zwar nicht in Latein, sondern auf Deutsch,
       der Sprache, die vor Gericht entscheidend ist. „Wir können das, weil wir
       den ganzen Tag nichts anderes machen“, sagt Bormann. „Hausärzte achten
       nicht auf kleine Hämatome.“ Oft übersehen sie Stellen oder verfassen
       Berichte, die zu oberflächlich sind, um vor Gericht einen Nutzen zu haben.
       Sie stehen unter Stress. Im Wartezimmer drängeln andere Patienten. Die
       Notaufnahmen sind überlastet. Bormann hat Verständnis. Deshalb will sie
       handeln.
       
       ## Pflegekräfte könnten Wunden dokumentieren
       
       „Wir bieten an, unser Wissen weiterzugeben“, sagt Bormann. Sie und ihre
       Kollegen sind deshalb neue Wege gegangen. 2017 starteten sie das
       deutschlandweit erste Pilotprojekt zur Ausbildung sogenannter Forensic
       Nurses. Die Idee: Pflegekräfte sind fester Bestandteil von Notaufnahmen.
       Ärzte rotieren, Pfleger bleiben. Niemand hat intensiveren Kontakt zum
       Patienten. Niemand ist besser geeignet, um im stressigen Alltag Spuren zu
       sichern.
       
       In dem Kurs bildeten Bormann und ihre Kollegen zwölf Pflegekräfte einer
       Münchner Frauenklinik zu forensischen Pflegern aus. Sie schulten sie darin,
       Wunden zu fotografieren, den Bogen auszufüllen, Proben zu entnehmen.
       Gemeinsam lösten sie Fälle, diskutierten rechtliche Grundlagen und lernten
       Beweismittel richtig aufzubewahren. In den USA arbeiten Forensic Nurses
       schon seit den 80er Jahren. In der Schweiz gibt es den europaweit ersten
       Studiengang, der sie ausbildet.
       
       Bormann wünscht sich, dass künftig auch in Deutschland mehr Pflegekräfte
       erlernen, wie man Übergriffe dokumentiert. Protokolle der Gewalt, die dann
       vor Gericht von Rechtsmedizinerinnen wie ihr interpretiert werden. „Jedes
       Mal, wenn ich als Gutachterin berufen werde, bete ich für ein gutes
       Protokoll“, sagt Bormann.
       
       6 Sep 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /haeusliche-Gewalt/!t5014590
       
       ## AUTOREN
       
   DIR David Gutensohn
       
       ## TAGS
       
   DIR häusliche Gewalt
   DIR Medizin
   DIR Opferschutz
   DIR #Me too
   DIR häusliche Gewalt
   DIR häusliche Gewalt
   DIR Polizei Berlin
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Prozess gegen Pfleger in Hannover: Vorwurf: Frauen missbraucht
       
       Der Pfleger Roland W. soll Frauen mit Behinderung missbraucht, vergewaltigt
       und dabei gefilmt haben. Das ist kein Einzelfall, sagt eine Expertin.
       
   DIR Was hilft gegen häusliche Gewalt?: Besserer Schutz durch Anonymität
       
       Opfer von Sexualstraftaten können in Bremen Spuren der Tat anonym sichern
       lassen. Künftig soll das auch für Betroffene häuslicher Gewalt möglich
       sein.
       
   DIR Häusliche Gewalt: „Bin ich jetzt auch einer von denen?“
       
       Eine Berliner Beratungsstelle hilft Tätern, einen Weg aus der Gewalt zu
       finden. Im Jahr 2018 haben sich dort 300 Männer Unterstützung geholt.
       
   DIR Kriminalität in Berlin: Der Gewalt auf der Spur
       
       Die Polizei zählt knapp 15.000 Fälle häuslicher Gewalt im Jahr 2017. Die
       Justizverwaltung will mehr Geld für die Gewaltschutzambulanz.