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       # taz.de -- ZDF-Film über Merkels Flüchtlingspolitik: Ein historischer Tag
       
       > „Stunden der Entscheidung“ dokumentiert, wie Merkel entschied, Tausende
       > Geflüchtete nach Deutschland zu lassen. Ein Lehrstück über Europas
       > Gewissen.
       
   IMG Bild: Heike Reichenwallner verleiht ihrer Merkel eine hohe Authentizität
       
       Am Ende wird Mohammad Zatareih es geschafft haben: Er und 2.000 andere
       Geflüchtete steigen nachts in Busse, die sie aus Ungarn hinaus in Richtung
       Österreich bringen werden. Von dort aus geht es weiter mit dem Zug nach
       München. Am Ende wird Angela Merkel eine Entscheidung getroffen haben:
       [1][für die Einreise Tausender Menschen], die im erbitterten Streit
       zwischen Ungarn auf der einen und Deutschland und Österreich auf der
       anderen Seite zu Opfern der europäischen Politik zu werden drohen.
       
       Bis es aber so weit ist, erzählt „Stunden der Entscheidung“ akribisch, was
       an jenem 4. September 2015 passiert ist. Dem Tag, an dessen Ende die
       deutsche Regierungschefin einwilligte, in Ungarn gestrandete Geflüchtete
       aufzunehmen. Die Frage, warum es nicht bei diesem einmaligen Akt in einer
       außerordentlichen Situation bleiben konnte, beantwortet der Film nicht.
       
       Der 4. September 2015 ist ein historischer Tag – und zwar nicht nur für
       Merkel, dieses Land und Europa. Sondern vor allem für jene, die seinerzeit
       die Leidtragenden eines zugespitzten politischen Konflikts gewesen sind.
       Wer bereit ist, sich noch einmal vor Augen zu führen, was im Spätsommer
       2015 so dringlich daran war, Notleidenden zu helfen, sollte sich dieses
       Fernsehstück anschauen. Er wird auf das bessere, das in den Debatten der
       zurückliegenden Jahre fast verschüttete Selbst dieses Landes treffen.
       
       [2][Auf Bilder vom Münchner Hauptbahnhof, wo völlig erschöpfte Geflüchtete
       begrüßt werden]. Die AfD hat für diese Helfer später das Wort
       Bahnhofsklatscher erfunden; das Dokudrama zeigt, warum man diese Schmähung
       im Grunde mit Stolz annehmen darf.
       
       ## Held der Geschichte ist ein Anderer
       
       „Stunden der Entscheidung“ schafft es, trotz Reenactment-Szenen – die ja
       meist etwas Sperriges haben – die Stimmung dieser dramatischen Tage noch
       einmal herzustellen. Die neunzig Minuten sind flankiert von Politiker- und
       Experten-Interviews. Der Journalist Martin Kaul, der damals für die taz
       live aus Ungarn berichtet hat, schildert fühlbar die Ereignisse, ihre
       Wendungen und Dramen.
       
       Der eigentliche Star des Films aber ist Mohammad Zatareih, jener junge
       Syrer, der den Marsch der Verzweifelten über Ungarns Autobahn Richtung
       Österreich organisiert und angeführt hat. Es ist eine Freude, ihm
       zuzuhören, wie er heute in perfektem Sächsisch die Ereignisse schildert:
       seine Verantwortung für die Gruppe, seine Angst, ausgetrickst zu werden,
       seine Erleichterung, als klar wird: Wir schaffen das. Der Mann aus Damaskus
       hat in Zwickau Deutsch gelernt, sein Asylantrag ist mittlerweile anerkannt.
       
       Zeitgleich zu Zatareihs Nervenkrieg sucht Merkel nach einer Antwort auf die
       Frage: Helfen oder nicht? Die AutorInnen Sandra Stöckmann und Marc Brost
       erzählen diesen Prozess akribisch nach. Schauspielerin Heike Reichenwallner
       verleiht ihrer Merkel eine hohe Authentizität, ohne maskenbildnerischen
       Mimikri erkennt man Merkel gut: ihre Handhaltung, ihren Humor, die
       Anspannung.
       
       Die Vertrauten im Kanzleramt sind gut getroffen: Steffen Seibert, Peter
       Altmaier, Merkels Beraterin Eva Christiansen, ihre Büroleiterin Beate
       Baumann. Keiner von ihnen hat dem Drehteam für Interviews zur Verfügung
       gestanden, das Erinnern übernehmen der damalige Innenminister Thomas de
       Maizière, Peter Tauber und Sigmar Gabriel.
       
       ## Seehofer geht nicht ans Telefon
       
       Kein Reenactment braucht Horst Seehofer – anschaulich wird erzählt, wie der
       damalige bayerische Ministerpräsident telefonisch partout nicht erreichbar
       ist und es auch bleibt, bis die Geflüchteten im Freistaat ankommen. Aus der
       nicht stattgefundenen Abstimmung mit ihm wird Seehofer später eine
       gigantische Regierungskrise formen.
       
       Am Ende des Films mündet dieser 4. in einen 5. September und dann in viele
       hundert Tage, die seither ins Land gegangen sind. Angela Merkel hat für
       ihre Entscheidung einen hohen politischen und persönlichen Preis bezahlt.
       Thomas de Maizière spricht von einer „Entwicklung, die den Zusammenhalt
       der Gesellschaft hat aufplatzen lassen“. Gerald Knaus, der die
       Bundesregierung migrationspolitisch berät, bewertet das anders. Angela
       Merkel, sagt der Politologe, habe am 4. September 2015 „die Seele Europas
       gerettet“. Und Deutschland habe „als Gesellschaft moralisch einen Test
       bestanden“. Wahre Worte in immer noch turbulenten Zeiten.
       
       4 Sep 2019
       
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