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       # taz.de -- Theatermacher Milo Rau versus Salvini: Die Möglichkeit einer Revolte
       
       > Unser Autor inszeniert in Süditalien ein „Neues Evangelium“. Dazu gehören
       > auch Proteste gegen die Räumung eins Lagers von MigrantInnen.
       
   IMG Bild: Jesus ist ein Anführer, von seinen Anhängern angetrieben. Szene aus Milo Raus Inszenierung
       
       Seit drei Wochen inszeniere ich in Süditalien einen modernen Jesusfilm. Der
       Gottessohn wird vom kamerunischen Aktivisten Yvan Sagnet gespielt, seine
       Apostellinnen und Apostel sind Flüchtlinge, Kleinbauern, Aktivisten,
       Sexarbeiterinnen: eine revolutionäre Gegengesellschaft im Kleinen, wie sie
       in Süditalien im Windschatten einer von den Grosskonzernen und der Mafia
       kontrollierten Gesellschaft entstanden ist.
       
       Obwohl wir die Bibel-Szenen in klassischen Kostümen spielen, geht es uns
       nicht darum, wie das Leben Christi „wirklich“ war: Es geht um die
       Parallelen zum heutigen Europa. Was uns interessiert, ist die
       Widersprüchlichkeit, die das Neue Testament seinen Figuren verleiht – und
       damit der imperialen Wirklichkeit Roms.
       
       Warum verrät Judas Jesus? Aus Opportunismus oder weil er fürchtet, dass
       Jesus nicht radikal genug ist für die finale Konfrontation mit Rom? Woher
       kommt dagegen die Kraft von Maria Magdalena, die bis zum Ende zu Jesus
       steht? Warum verleugnet Petrus, der spätere Kirchengründer, den Propheten?
       
       ## Der gasförmige Charakter imperialer Politik
       
       Ich glaube, man versteht die Bibel nur, wenn man Atheist ist. Denn das
       Radikale am Neuen Testament ist, dass es die politischen Zustände der
       damaligen Zeit verwirrend ungefiltert abbildet, trotz aller späteren
       Korrekturen. Im komplexen Charakter von Pontius Pilatus etwa zeigt sich der
       gasförmige Charakter imperialer Politik.
       
       Wie die heutigen Politiker Italiens ist Pontius Pilatus nur so stark wie
       die öffentliche Meinung. Zur Verurteilung von Jesus wird er durch
       Akklamation getrieben, er selbst hält sie für falsch. Jesus hingegen wird
       nicht als unfehlbar, sondern als völlig widersprüchlicher Mensch
       dargestellt. Er ist ein Anführer, der von seinen Anhängern angetrieben,
       verehrt, kritisiert und am Ende sogar verraten wird.
       
       ## Ein historisch einzigartiger Versuch
       
       Das eigentliche Kernstück unseres „Neuen Evangeliums“ ist deshalb die Frage
       nach der Möglichkeit einer Revolte in einer atomisierten politischen Lage.
       Mit einer „Revolte der Würde“ – einem Zusammenschluss von etwa 30
       Organisationen – versuchen wir, eine breite Front gegen die Politik
       Salvinis zu schaffen. Es ist ein für Süditalien historisch einzigartiger
       Versuch: Erstmals kämpfen italienische Kleinbauern und Migranten Seite an
       Seite, erstmals beginnt eine politische Initiative gemeinsam in den wilden
       Flüchtlingslagern, in den Bauern- und Anwalts-Vereinigungen und den
       anarchistischen Gruppen.
       
       Doch Widerstand kommt nicht nur von außen, sondern auch von innerhalb der
       Lager. Dass die Flüchtlinge rechtlos sind, angewiesen auf letztlich
       sinnlose, aber grosszügig mit EU-Geldern ausgestattete Projekte, ist das
       Geschäftsmodell vieler NGOs. Für sie ist Yvan Sagnet, so nah sie ihm
       politisch stehen mögen, der Feind – so wie einst der historische Jesus für
       die Pharisäer.
       
       Vergangene Woche schliesslich beschleunigte sich die „Revolte der Würde“
       unvorhergesehen. Eines der wilden Flüchtlingslager, in dem mehrere unsere
       Apostel wohnen, sollte geschlossen werden, natürlich ohne jede Alternative
       für die dort lebenden Menschen.
       
       ## Ein moderner Pontius Pilatus
       
       Wir organisierten einen Protestmarsch, nachts halfen wir mit, die Migranten
       in anderen leer stehenden Gebäuden unterzubringen. Bezeichnenderweise wurde
       die Schließung, die wir am Ende nicht verhindern konnten, von einem
       Bürgermeister des Partido Democratico und dem Lega-Innenminister Salvini
       initiiert – zwei Parteien, die sich feindlich gegenüber stehen. Als moderne
       Pontius-Pilatus-Figur hatte der Bürgermeister für die Schließung einen
       einzigen Grund: dass er die „Verantwortung für die Sicherheitslage“ nicht
       übernehmen wollte. Während Salvini der Polizei und der Armee für den
       „Beginn einer Kampagne der Auflösung von wilden Lagern in ganz Italien“
       zujubelte, entschuldigte sich der Partido-Democratico-Politiker bei den
       Betroffenen.
       
       Doch das war nur, was an der Oberfläche sichtbar wurde. Wie sich
       herausstellte, hatte die Aktion einen sehr konkreten wirtschaflichen Grund:
       die dort lebenden Farmarbeiter mussten in andere Gebiete vertrieben werden,
       da dort die Ernte ansteht. Der Kampf für Würde und Gerechtigkeit hat gerade
       erst begonnen.
       
       4 Sep 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Milo Rau
       
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