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       # taz.de -- Theater zur Weimarer Verfassung: Grundrechte über Megafon
       
       > Das Kunstfest Weimar begann mit einer Erinnerung an die verfassunggebende
       > Versammlung vor 100 Jahren. Es wird eine Mammut-Performance.
       
   IMG Bild: Vor dem Theater, das Publikum drängt zur Teilnahme an dem Reenactment der Geschichte
       
       Ein schöner Sommertag vor dem Nationaltheater Weimar: Rund um das
       Goethe-Schiller-Denkmal versammeln sich einige hundert Menschen, man trägt
       Anzug und Hut, einige winken vom Balkon. So endete am 21. August 1919 die
       [1][verfassunggebende Versammlung], die der Weimarer Republik ihren Namen
       gab. Und so beginnt genau 100 Jahre später das Kunstfest Weimar 2019. Viele
       Besucher*innen haben sich im 1920er-Jahre-Stil herausgeputzt für diesen
       Startschuss einer neunstündigen Demokratie-Performance, die das Kunstfest
       Weimar eröffnet.
       
       An historischem Ort und aus den Sitzungsprotokollen hat Regisseur Nurkan
       Erpulat den Ablauf der verfassunggebenden Versammlung und die Geschichte
       des Reichstags bis 1933 collagiert und nachinszeniert. Das
       „Reichstags-Reenactment“ dauert zwei Tage und ist politische Bildung als
       Mammut-Performance.
       
       Bühnenbildnerin Luise Ehrenwert setzt auf den leeren Raum, mit schwarzen,
       roten und goldenen Planen und Vorhängen. Darauf erscheinen Lebensdaten und
       Parteizugehörigkeit der Figuren. Die Inszenierung ist schnörkellos mit
       hoher Konzentration und Verdichtung. Neben 14 Ensemblemitgliedern und einer
       siebenköpfigen Band sind auch Schulklassen und Weimarer Bürger beteiligt
       sowie prominente Gäste, darunter Gregor Gysi, Bodo Ramelow und Katrin
       Göring-Eckardt. Insgesamt stehen rund 150 Personen auf der Bühne.
       
       ## Die Revolution ist vollbracht
       
       Kein kleines Vorhaben, sowohl für die Spielenden als auch die Zuschauer,
       aber ein relevanter Beitrag zu unserer Zeit. Sänger Matthias Görne eröffnet
       mit Brechts Lied der Solidarität, „Vorwärts und nicht vergessen“. Die
       Revolution ist vollbracht, die Hoffnung groß. Der Ablauf ist zwar streng
       chronologisch, dabei setzt die Dramaturgie inhaltliche Schwerpunkte. Themen
       sind Gleichberechtigung, Abtreibungsparagraf, der Versailler Vertrag mit
       der Kriegsschuldfrage, die Nationalflagge, der Beitritt Bayerns zur
       Biersteuer.
       
       Politische Linien klären sich: Die Vision von einer sozialistischen
       Republik weicht bei der SPD schnell dem Pragmatismus des Tagesgeschäfts
       zwischen Versailles, Spartakus-Aufstand und leerer Kassen. Monarchisten
       sehen den neuen Gesellschaftsvertrag nur als Phase, während die Idee eines
       starken deutschen Volkes angesichts der „Schmach von Versailles“ allseitig
       und immer gerne beschworen wird.
       
       Es bedarf hier für die Zuschauenden einiges an Kontextwissen. Erst gegen
       Ende des ersten Tages verlässt die Performance mit der Verlesung der
       Grundrechte über Megafone im Zuschauerraum die strenge Bühnenform aus Solo
       und Chor. Schillers Lied von der Hoffnung beendet nach Brechts Kinderhymne
       und einer ungesungenen Nationalhymne diesen ersten Teil.
       
       Der zweite Tag steht im Banne des Endes der Weimarer Republik. Wie konnte
       es so weit kommen? Die Inszenierung zeichnet vor allem die Gegner der
       Demokratie: reaktionäre Monarchisten, sowjettreue Kommunisten,
       rechtsradikale Antisemiten (die auch schon mal die Ostjudenfrage
       diskutieren). Ihre Zeichnung gegen eine immer defensiver agierende Mitte
       aus Sozialdemokraten, Zentrum und Demokratischer Partei gelingt stark, die
       wirtschaftlichen Entwicklungen hingegen sind kaum konturiert. Themen sind
       Außenpolitik, die ständig ansteigende politische Gewalt und die Reichswehr
       als rechtes Untergrundnetzwerk.
       
       ## Distanzierung zu den Texten der Rechten
       
       Immer stärker werden im Verlauf der Inszenierung die Distanzierungen und
       Interventionen der Gäste, die dieser antidemokratischen Rhetorik mit
       zeitaktuellen Kommentaren, etwa zu der Flüchtlingskrise auf dem Mittelmeer,
       etwas Humanität entgegenstellen wollen. Das Publikum applaudiert dankbar.
       
       Bei den Schauspielern ist das subtiler, aber die Parallelen des Weimarer
       Goebbels zum real existierenden Höcke sind frappierend. Weimarer
       Laiendarsteller in roten und braunen Anzügen unterstreichen nun die
       aufgeheizte Atmosphäre im Reichstag. Improvisierte Jazzmusik aus dem
       Hintergrund untermalt die dramatische Entwicklung, bis schließlich auf
       Antrag der KPD die Regierung 1932 abgesetzt wird, was wiederum NSDAP-Mann
       Göring verkündet – und damit nur kurz der Auflösung des Reichstags durch
       Reichskanzler von Papen zuvorkommt. Das Ende inszeniert Erpulat als
       geradezu klassisch tragischen Moment.
       
       Danach gibt es nur noch einen Redebeitrag: Ein kleiner Junge verkündet
       breitbeinig von der Bühne Hitlers neues Ermächtigungsgesetz zur Rettung des
       deutschen Volkes. Der Abschlussapplaus kommt da nur mühsam in Gang.
       
       Am Samstag demonstriert dann ein kleiner Haufen Rechtsradikaler vor dem
       Theater. Es geht offiziell nicht um das Kunstfest, sondern gegen den Islam.
       Rund 200 demokratisch gesinnte Gegendemonstranten stellten sich dem mit
       Trillerpfeifen entgegen.
       
       27 Aug 2019
       
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