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       # taz.de -- Choreograf über Antarktis-Expedition: „Was auf See geschieht“
       
       > Der Choreograf James Batchelor begleitete eine Expedition in der
       > antarktischen See. Ein Gespräch über Künstler als Seefahrer, Klima und
       > die Suche nach Unberührtem.
       
   IMG Bild: War zwei Monate bei einer wissenschaftlichen Subantarktis-Expedition dabei: James Batchelor (links)
       
       Land- und Seekarten faszinieren James Batchelor seit seiner Kindheit. Das
       Interesse des australischen Choreografen gilt vor allem der Vermessung von
       körperlicher Erfahrung. In der Trilogie „Deepspace“, „Redshift“, und
       „Hyperspace“ beschäftigt er sich mit verschiedenen Systemen des Messens und
       der Datenermittlung in Bezug auf das Unermessliche. In der Performance
       „Deepspace“, die in Berlin beim Festival Tanz im August zu sehen ist,
       verarbeiten er und die bildende Künstlerin Annalise Rees ihre Erfahrungen
       während einer wissenschaftlichen Subantarktis-Expedition. Das bereiste
       Gebiet liegt in einer der Gegenden mit dem höchsten Seegang der Welt, rund
       4.000 Kilometer südwestlich von Westaustralien und südöstlich von
       Südafrika. 
       
       taz: James Batchelor, Sie waren zwei Monate auf einem Schiff. War das lang? 
       
       James Batchelor: Ja, ich muss sagen, dass es sich lang anfühlte. Es waren
       zwei Monate ohne Landgang, also ohne Möglichkeit, der Situation zu
       entkommen. Auch gab es wenig Ablenkung: kein Internet, keine Freunde, keine
       Familie, nichts Bekanntes.
       
       Es heißt, die äußere Umgebung habe auf See immer unmittelbare Wirkung auf
       die Crew. Absorbiert die Mannschaft in Gegenden ohne äußere Anhaltspunkte
       die Stille? 
       
       Es war sehr ruhig, sehr isolierend. Ich habe viel Zeit allein verbracht,
       auch wenn wir etwa 60 Leute an Bord waren. Ganz anders, als ich es als
       Tänzer gewöhnt bin. Das hat tief in meine Konstitution eingegriffen. Ich
       kam an Fragen heran, die seit Jahren in mir schlummern.
       
       Sie waren in der Region der subantarktischen Heard-Insel und
       McDonaldsinseln, einer Gegend, die zu den abgelegensten der Welt gehört.
       Wie kam das? 
       
       Ich wurde von dem führenden Wissenschaftler Mike Coffin eingeladen. Früher
       war er selbst Tänzer, dann wurde er Astronaut, später studierte er
       Meereswissenschaften. Ihn trieb die Frage um, wie künstlerische Recherche
       mit den anderen Recherche-Arten korrespondieren kann. Es war für ihn kein
       leichter Job, dieses Interesse dem Rest des Teams zu erklären.
       
       Das Wissenschaftsteam forschte zu submarinen Vulkanen und deren Einfluss
       auf die globale Biosphäre. Hat sich das auf Sie ausgewirkt? 
       
       Das Thema Klima war sehr präsent. Die submarinen Vulkane versorgen den
       Ozean mit Eisen und anderen Nährstoffen. Zudem ist diese Region, die erst
       von ein paar Hundert Menschen bereist wurde, eine der wichtigsten für das
       Klima der Erde, ein unentbehrlicher Sauerstofflieferant. Dort entsteht
       jeden Sommer ein riesiger Algenteppich, der produziert ein Drittel des
       weltweiten Sauerstoffs. Jeder dritte Atemzug kommt von dort. Eine so weit
       von der bewohnten Welt liegende Region zu bereisen, nur um festzustellen,
       wie eng alles miteinander zusammenhängt, hat mein Bewusstsein sehr geprägt.
       
       Was haben Sie auf der Reise gesehen? 
       
       Erst einmal Ozean. Nur Ozean bis zum Horizont, in jeder Richtung, Tag für
       Tag. Langsam habe ich die verschiedenen Farben des Ozeans gesehen und
       zuordnen können. Und ich habe ihn natürlich gefühlt, seine
       unterschiedlichen Bewegungen. Als wir schließlich bei den Inseln ankamen,
       war es vor allem der Anblick des Vulkans, den wir umrundet haben, der das
       Bild geprägt hat. Es gibt dort einen aktiven Vulkan, der immer etwas Lava
       ausspuckt. Stellen Sie sich vor, ein riesiger, gefrorener Berg mit einer
       Krone aus heißer Lava!
       
       Einer meiner Freunde ist Seefahrer. Er sagt, es sei sehr schwer, Worte für
       Erfahrungen zu finden, die Landmenschen nicht haben. 
       
       Darum ist Tanz als Medium so gut. Es ist keine Sprache mit eindeutigen
       Bedeutungen, die wir direkt zuordnen können. Es schafft nicht unbedingt
       Inhalt, sondern eher eine Atmosphäre: eine Art zu sein, zu sehen, zu
       denken. Tanz macht eher neugierig auf eine Erfahrung, als dass er sie
       darstellt. Darum ist er vielleicht die beste Übersetzung dafür, was auf See
       geschieht.
       
       Früher gab es rechts und links von Kompassen Eisenkugeln. In Ihrem
       Tanzstück benutzen Sie Kugeln aus verschiedenen Metallen. Sind das Mittel
       im Umgang mit dem magnetischen Feld der Erde, das auf dem Ozean stärker
       wahrgenommen wird? 
       
       Einige der Expeditionsteilnehmer_innen, die meine Performance gesehen
       haben, dachten ähnlich. Aber ich denke eher an Gravitation, an Ankern.
       Später werden die Kugeln immer kleiner, zu Gewichten, wie sie beim Fischen
       benutzt werden. Ich bewege sie meine Wirbelsäule entlang wie auf einer
       Kugelbahn und später rollen sie auf den Boden und werden dort zu einer Art
       Galaxie.
       
       Wurde in der Gegend gefischt? 
       
       Ja, wir sahen einige japanische Walfangboote. Es ist erschreckend, auch an
       einem so entlegenen Ort auf Spuren der menschlichen Konsumgesellschaft zu
       stoßen. Auch Plastikmüll haben wir gesehen.
       
       Das lässt mich an eine Geschichte von Cees Nooteboom als writer in
       residence auf einem Kreuzfahrtschiff denken: Für den Whiskey wurde per
       Beiboot mutmaßlich 23 000 Jahre altes Eis aus einem Gletscher geschlagen … 
       
       Beeindruckend. Mit solchen Gewohnheiten haben wir uns eher zurückgehalten.
       Mein Genuss war die Beobachtung der Natur: der Möwen, Wale, Pinguine. Auch
       Polarlichter sah ich eines Nachts, die eindrücklichste Naturerfahrung
       meines Lebens!
       
       Es scheint eine Tendenz zu sein, dass Künstler_innen nun an die letzten
       Orte reisen, die nicht mit Billigfliegern erreichbar sind. Ein alter
       Widerspruch: sich von der Unberührtheit berühren zu lassen, indem man in
       sie eindringt. 
       
       Ja. Andererseits ist es, wie ich sagte: So weit diese Orte auch entfernt
       sind, sie stehen mit uns in Beziehung. Gleichzeitig macht es keinen Sinn,
       dort zu wohnen, weil diese Natur in keinem Verhältnis zum menschlichen
       Körper steht. Es gibt also keine Anlaufstellen dort, und die wenigen
       Expeditionen, die es gibt, sind daher immer noch eine Reise in eine
       Unerreichbarkeit. Aber so nobel die Intentionen auch sein mögen, habe ich
       mich doch als Eindringling gefühlt, als jemand, der an einem Ort ist, an
       dem er nicht sein sollte.
       
       31 Aug 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Astrid Kaminski
       
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